50 - Palast, Ballsaal Westflügel

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Hätte Maya einen weiteren Beweis dafür gebraucht, dass der junge Adel ebenfalls in tiefen Schwierigkeiten steckte, hatte sie diesen, als Julian Alessandrini nicht auf dem Ball zu seinen Ehren auftauchte. Sie stand zusammen mit ihrem Bruder an der Wand des großen Ballsaals und beobachtete das Treiben. Die Anwesenheit des Kronprinzen schien alles zu überschatten, was in der Stadt passierte. Jede Intrige, jede Allianz, musste sich neu sortieren, seit der Königssohn keine ferne Idee mehr war, sondern wieder unter dieser Kuppel atmete. Der König musste keine offizielle Rede darüber halten, dass sein Sohn nicht kommen würde. Jemand hatte es in ein Ohr geflüstert und die Information machte die Runde, noch bevor ein einziges Mitglied der königlichen Familie anwesend war. Es war interessant, wie sich die Atmosphäre im Raum veränderte, als allen klar wurde, dass der Prinz nicht auftauchen würde. Erleichterung im Orden und auch unter den Hofleuten. Die Stimmung wurde ein wenig gelöster. Denn bei allem Interesse, das man dem Reisenden entgegenbrachte, war Julian Alessandrini furchteinflößend. Vor allem auch, weil niemand hier ihn so gut einschätzen konnte, nachdem er so lange weggewesen war.

„Eine Situation in Katania, die seiner Expertise bedarf?", griff ihr Bruder die Begründung für seine Abwesenheit auf. „Er hat wohl vergessen, den letzten Rebellen zu töten."

Maya fühlte sich zittrig und zerstreut. Sie bemühte sich, nicht die Finger in den Oberarm ihres Bruders zu krallen. Das letzte, was sie brauchte, war mehr von seiner Besorgnis. Sie war still und nachdenklich, da hatte er Recht, aber es lag an diesem Abend nicht daran, dass der Orden sie immer noch behandelte wie eine Aussätzige. Maya bezweifelte, dass der Kronprinz abwesend war, weil in Katania irgendetwas geschah. Nicht, weil es abwegig war, sondern weil sie wusste, dass sie jemandem geholfen hatte, einen Ableger der Flamme zu dämpfen. Wem, wusste sie nicht. Irgendetwas war geschehen. Es war gefährlich, ihr Ruf würde noch mehr wackeln, wenn sie erwischt wurde, doch sie musste wissen was geschah. Sie schwebte durch verschiedene Gespräche mit Adligen, bis sie bei der Person landete, zu der sie wollte. René de Chirouelle-Avalinis hatte ein so weißes Lächeln, dass es unnatürlich wirkte. Maya hätte sie gemieden, wenn die Dinge anders gelegen wären. Doch wenn irgendjemand hier ihr sagen konnte, was wirklich passierte, dann waren es weder König, noch Hohepriesterin, sondern diese Frau. René wusste wohl, was Maya wollte. Während ihres Wegs durch die Menge und die Gespräche, hatte sie immer wieder die Augen der Prinzessin auf sich gespürt.

„Ich habe Euch noch gar nicht zu Eurer Beförderung gratuliert", war einer der ersten Sätze, die die Verlobte des Reisenden nach den zeremoniellen Höflichkeiten zu ihr sagte. Ob es ehrlich war oder eine Stichelei spielte keine Rolle, Maya bedankte sich. Sie sprachen über belanglose Dinge, bis René Maya einlud, eine Runde mit ihr zu gehen und ihre Hofdamen sich zurückzogen.

„Ihr müsst voller Freude auf Eure Hochzeit sein", begann Maya langsam, das Gespräch in die Richtung zu lenken, die sie brauchte.

„Hochzeiten sind eine erfreuliche Angelegenheit."

Von Renés Schlüsselbeinen funkelte Maya ein Collier von unwahrscheinlicher Schönheit entgegen. Vermutlich Diamanten aus den Katania, die ihr Verlobter um die Welt geflogen hatte, um sie ihr zu schenken.

„Protektorin, wie ich es verstehe seid Ihr mit Nico befreundet inzwischen. Das freut mich für Euch. Es ist ein kluger Schachzug, sein Netzwerk zu vergrößern in diesen Zeiten."

„Bin ich Teil eures Netzwerks?", fragte Maya steif zurück.

René lächelte nachsichtig und blendend.

„Nico pflegt seine Kontakte anders als ich. Jemand wie ihr wäre mir zu viel Aufwand. Eine Protektorin der Flamme? Ihr seid keine Informantin, ihr seid eine Verbündete. Bündnisse sind aufwendig."

Ausgerechnet diese Frau respektierte sie für ihre Stellung im Orden. Oder zumindest tat sie so. Dass van Garde sie als Ressource sah, war spätestens klar, seit er sie mitten in der Nacht sensible Informationen zur Flamme hatte sammeln lassen. In einem verdächtigen betont theoretischen Kontext.

„Was ist geschehen?", fragte Maya. „Van Garde hat nicht mehr gesagt als das nötigste und Bernadottes Informationen waren hauptsächlich darauf ausgelegt, mich zur Spionage anzustiften."

Zu ihrer Überraschung nickte ihr René zu. Sie hatte die gleiche Aufmerksamkeit für ihre Umgebung, wie Maya. Vielleicht noch stärker ausgeprägt, als sie sie zur Seite lotste und damit aus dem Blickfeld des Saalquadranten, in dem der König und die Hohe standen.

„Ihr habt sehr gute Arbeit geleistet. Die gestohlenen Erinnerungen sind zurück im Palast, alle davon. Wir übergeben euch, was wir außerdem gefunden haben, sobald die Sicherheitsvorkehrungen des Gedächtnisses verstärkt werden."

„Ihr übergebt sie mir wieder?"

Damit hatte sie nicht gerechnet. Schließlich hatte sie erst aus dem großen Gedächtnis gestohlen für diese Wahnsinnigen.

„Nicht die, die ihr für Julian geholt habt. Aber eine andere, ja. Es wurde mehr gestohlen aus dem großen Gedächtnis in letzter Zeit, als angenommen. Und nicht nur von uns."

Maya war sprachlos. Als sie hinuntergestiegen war, war sie davon ausgegangen, dass niemand sonst soetwas tun würde. Ihr Amt hatte ihr leichten zutritt verschafft, aber diesen teilte sie sich nicht mit vielen Menschen. Mit der Hohen selbst und einigen Priesterinnen, aber diese waren alle treu dem Orden ergeben. Jetzt sagte diese Fürstin ihr, dass noch jemand gestohlen hatte? Maja wusste nicht mehr, was sie glauben sollte.

„Die Flamme?", brachte sie abgehackt heraus.

„Sie hat alles verbrannt, was dort war. Ich habe Fotos der Ruinen gesehen. Falls sie noch brennt, dann unerreichbar für uns, gedämpft und tief im Fels. Eine Bergung würde mehr Kosten und Aufsehen erregen, als nötig."

Maya sah vor ihrem inneren Auge geschmolzener Stein, auf dem leise und heißer als jedes andere Feuer die weiße Flamme des Ordens brannte. Das Gebäude ausbrannte. Die Menschen darin. Sie wusste nicht, welche ihrer Elitesoldaten die Adligen hinuntergeschickt hatten, um die Flamme zurückzustehlen, aber sie bezweifelte, dass sie noch lebten.

„Macht Euch keine Sorgen, Protektorin", lächelte die zukünftige Königin der Welt und sagte einen Satz, der vollkommen fehl am Platz wirkte nach allem, was sie gerade gesagt hatte: „Es ist alles unter Kontrolle."

Es fehlte gerade noch, dass sie Maya auf die Schulter klopfte, bevor sie sich ihrem nächsten Gespräch zuwandte. Um die Abweisung nicht ganz so offensichtlich zu zeigen, wandte sie sich ihrerseits zwei Hofdamen zu, doch diese beäugten sie nur abschätzig. Maya zog sich an den Rand der Menge zurück und betrachtete die Adligen. Wie viele von ihnen wussten, was der Kronprinz im Geheimen tat? Wie viele wussten, dass das große Gedächtnis schon länger nicht mehr vollständig war und dass Erinnerungen von unschätzbarem Wert genauso abhanden gekommen waren, wie die Flamme selbst? Sie drehte sich um und schaffte es, den Raum zu verlassen, bevor die Panik so schlimm wurde, dass sie zu hyperventilieren begann, Sternchen sah und dann alleine in einer Ecke zusammenbrach.

Skythief - Gefallene Sterne [2024 Version]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt