51 - Erinnerung des Kronprinzen, Arete Villa

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Julian war als Kind auf Bäume geklettert, sehr zum Leidswesen aller Ammen und Lehrer. Nicht im Palastgarten, wo ihn ein halbes Dutzend Wachen davon abgehalten hätte, sondern auf dem Land bei Olis Familie und immer zusammen mit seinen Freunden. Während er dahin dämmerte, stand er plötzlich wieder im sanften Licht eines Nachmittags, der lange vorbei war. Zwischen hohen alten Bäumen unter dem blauen Himmel der Kuppel. Die Erinnerung war gestochen scharf. Die kleine Vic hatte ihn herausgefordert und er wollte nicht als Feigling dastehen. Der Ehrgeiz überrollte ihn. René und Oliver hatten unten gewartet, während Julian und Vic hinaufkletterten in Richtung Baumkrone. Die Äste ächzten unter seinem Gewicht und er schürfte sich die Hände auf an der Rinde, aber aufgeben war keine Option. Schließlich war sie höher in den Ästen als er. Oli hatte als erster Angst bekommen, weil der Baum so hoch war. Julian kümmerte sich nicht darum. Er stieg Victoria hinterher und als er sie überholte, streckte er ihr die Zunge heraus. Sie heulte wie eine kleine Katze und er griff noch einen Ast höher. Vic verlor nicht gerne. Sie packte sein Bein, um ihn nicht noch höher steigen zu lassen.

„Hey, lasst das!", rief Oliver herauf. „Passt auf!"

Julian hatte nach unten geblickt, in das feixende Gesicht seiner größten Spielplatzgegnerin. Sie rangelten und es war nicht schlimm, bis er den Halt verlor und fiel. Ein paar Meter freier Fall, dann der Aufprall und die Schmerzen. Als er acht war, war er von einem Apfelbaum gefallen und hatte sich den Arm gebrochen. Lange war das der schlimmste körperliche Schmerz gewesen, den er gekannt hatte. Wenn er ein normales Kind wäre, wäre es vielleicht länger dabei geblieben. Doch dann war er in die Vorrunden gekommen, die Jahre, in denen ihn Tutoren und Militärs auf seine Ausbildung im Atheneum vorbereiteten. Das endlose Training, die blauen Flecken, die Härtetests. Julian hatte sich Finger und Rippen gebrochen, weil der Waffenmeister, den sein Vater ausgesucht hatte, nichts von den moderneren Methoden hielt. Er hatte gekämpft gegen seine Freunde. Gegen seine Kindergartenfeinde. Schmerzen waren unvermeidbar. Dann das Atheneum mit all seinen Schrecken, das die Vorrunden schnell verblassen ließ. Er war von einer Felswand gestürzt, fast ertrunken, hatte so viele Gefechte mit verschiedensten Waffen ausgetragen, wie von ihm verlangt wurden. René, Oli, Vic und er hatten im gleichen Jahr das Atheneum begonnen, aber alle Wege hatten sich nach zwei Jahren dort getrennt. René und Vic bei den Strategen, Oliver in einem völlig anderen Flügel so weit weg von den Kämpfen wie er konnte. Julian in den Simulationen des Regentenzyklus, die ihn langsam aber sicher zermalmten. Und als er es geschafft hatte, kam der Bruch in seiner Geschichte. Verheerender, als es irgendein gebrochener Knochen sein konnte, schmerzhafter. Das tiefe unaufhaltsame Gefühl von Nächten, in denen die Welt um ihn herum zusammenbrach. Plötzlich, ungnädig, unaufhaltsam. Er war nach Katania geflogen, hatte gegen echte Menschen in Schlachten gekämpft und nicht nur gegen Simulationen. Immer wieder hatten sie ihn zusammengeflickt, immer wieder hatte er gestöhnt vor Schmerz. Geschrien. Doch hatte er schon einmal solche Schmerzen gehabt, wie in diesem Moment? Er konnte sich nicht erinnern. Alles verschwamm. Julian wusste, dass er es ertragen konnte. Dass er aufwachen würde. Er war am Leben, das hatte er mitbekommen zwischen den Erinnerungsfetzen und kurzen Momenten, in denen er beinahe das Zimmer um sich her scharf sehen konnte. Die Welt wurde groß und wieder klein. Entfernt nahm er war, dass er weder auf Bäume kletterte, noch im Atheneum saß, sondern auf einem Bett lag. Menschen kamen und gingen, aber solange er vollkommen neben sich stand, ließen sie zu, dass er sie hielt. Sobald er wieder wusste, wer er war, wusste er es besser und ließ sie los.

Tage zogen vorbei und er wusste, dass alles ächzte, was er aufgebaut hatte, in seiner Abwesenheit. Doch er blieb, so lange er konnte und wusste nicht einmal, ob es ihretwegen oder seinetwegen war. Das Versteckspiel hatte ein Ende. Vielleicht nicht morgen oder am Tag danach, aber niemand würde dauerhaft verbergen können, was passiert war. Was er getan hatte. Sie war zu klug, um nicht zu begreifen, dass etwas seltsames passiert war. Falls sie je wieder aufwachte und sie selbst war. Dieser Gedanke – er sortierte ihn feinsäuberlich aus. Außer hoffen und bleiben konnte er nicht mehr viel tun. Es fraß ihn auf, gezwungen zu sein, wieder zu leiden, wenn es ein Privileg war. Wenn es hieß, dass man wieder etwas zu verlieren hatte.

Julian wurde nicht sanft an die Oberfläche seiner zusammenhanglosen Träume gespült, die die Medikamente ihm bescherten. Jemand schüttelte ihn ins Leben zurück. Als er blinzelnd in viel zu grelles Sonnenlicht sah, war das Erste, was er hörte, Nicos Stimme:

„Aufwachen, habe ich gesagt. Aufwachen, damit ich dich gebührend umbringen kann, du beispielloser Vollidiot."

Skythief - Gefallene Sterne [2024 Version]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt