Lange war es still genug, dass man das Feuer knistern hören konnte. Wie ironisch, dass eine Welt so leise zusammenbrechen konnte.
„Dann wäre ich nie in die Narben geworfen worden", flüsterte sie. Julian verzog das Gesicht. Sie hatte Recht. Verbannung in die Narben war kein Schicksal, das man aufmüpfigen Adligen antat. Sein Vater vertrat die Meinung, dass man durch Manipulation und Bestechung in der Regel alle Menschen unter Kontrolle bekam. Es stimmte und in den seltenen Fällen, in denen es Fehl schlug, musste man einzeln über eine Strategie entscheiden. Eine davon war offensichtlich fehlgeschlagen, denn ihr Opfer saß ihm gegenüber.
„Der zweite König nach dem Krieg ist in den Narben gestorben, nachdem aus den eigenen Reihen gegen ihn geputscht wurde. Ansonsten: ja. Deswegen hat auch niemand nach dir gesucht. Alle, mich eingeschlossen, dachten du wärst tot."
Ihre Augen wurden schmal. Er hatte Hinweise gesät, die sich jetzt allmählich zu einem Bild zusammenfügen sollten. Er hatte vielleicht gerade erst angefangen darüber zu sprechen, aber eigentlich tat er es, seit sie hier angekommen war.
„Du hast die ganze Zeit gewusst, wer ich bin."
„Seit du durch diese Tür gekommen bist, habe ich nicht mehr ruhig geschlafen. Ich weiß nicht nur, wer du vor der Passage warst. Ich habe deinen Stammbaum auswendig gelernt, bis zurück zur Auslese."
Sie hatte das Gesicht in den Händen vergraben, aber sie weinte nicht. Er wollte aufhören, wollte ihr Raum geben, aber die Lunte brannte und die Explosion würde folgen. Dieses Gespräch hatte sie jetzt schon zutiefst erschüttert, was nicht anders zu erwarten gewesen war. Dabei hatte es noch gar nicht richtig begonnen.
„Wir dachten, du wärst gestorben, ohne deine Erinnerung einzufrieren", seine Ruhe begann zu bröckeln. Es begann damit, dass er seine Hände immer wieder zu Fäusten ballte und entspannte auf den Sessellehnen.
„Woher kanntet ihr mich?", fragte sie. Sie sah ihn nicht an, sondern ins Feuer, wo meterhohe Flammen loderten, ohne einen von ihnen zu verbrennen. Das Licht zeichnete ihre Gesichtszüge nach. Dass irgendjemand in den Narben diese Frau ansehen konnte und nicht erkannte, was sie war, war ihm ein Rätsel. Wahrscheinlich hatte sie es bemerkt und ihr Licht gedämpft, klug wie sie war.
„Schon immer. Der Adel kennt einander gut. Das ist überlebenswichtig in diesem Palast. Ich weiß nicht mehr, wann ich René oder Nico das erste Mal gesehen habe. Wir sind zusammen aufgewachsen."
Sie hatte die Beine auf den Sessel hinaufgezogen.
„Wir sind zusammen aufgewachsen?", fragte sie. „Gilt das auch für die Frau, die ich war?"
Julian nickte schwerfällig.
„Nico hat dich erkannt, schon in den Narben, als du ihn angegriffen hast. Weil du den Vogel noch hattest."
Er hob sein eigenes Handgelenk und tippte dagegen. Er spürte ihren Blick beinahe physisch auf dem Tattoo. Die Vögel waren nicht identisch, aber sie waren in der gleichen Art gestochen und sie sahen sich an. Will hatte sie sich ausgedacht.
„Nico hat es mir nicht gesagt, weil er dachte, ich würde etwas Dummes tun. Weil er mich nicht belasten wollte, so kurz nach meiner Ankunft. Ich glaube, er dachte genau das gleiche wie ich: dass er wahnsinnig wird."
Sie sah wieder zu ihm hinüber, sah das Tattoo an, das sie verraten hatte. So klug, so gerissen und am Ende doch geschlagen. Er sah die Resignation, die auch über ihn hinweggerollt war. Doch das war gewesen, bevor er zurückgekommen war. Bevor er ins Exil gegangen war. Eine unendlich lange Zeit war es her.
„Wir haben damals versucht, herauszufinden, was geschehen ist. Wir haben es nie geschafft. Ich bin ins Exil gegangen, die anderen haben ihr Leben hier weitergeführt. Jahre später fliege ich zurück. Und in meiner zweiten Nacht in der Hauptstadt stehst du vor mir. Ein wahrhaftiger Geist."
Seine Stimme verlor sich.
„Ich dachte, ich würde wahnsinnig."
„Ihr kanntet mich. Die ganze Zeit. Ihr wusstet, wer meine Familie war."
„Ich hatte ..."
Sie sah ihn an und er verstummte. Er hatte mit Wut gerechnet, mit Hass. Beides wäre gnädiger gewesen als dieser Blick. Julian wusste, was Nico sagen würde. Wahrheit über alles, auch über Schmerz. Vor allem über Schmerz. Er fuhr sich über die Augen, in der Hoffnung er würde aufhören damit, so zu starren. Wach genug werden, um dieses Gespräch zu führen, das kein Mensch, der noch bei Verstand war, auch in diesem Zustand verlassen würde. Wäre er gestanden, hätte ihn ihr nächster Satz wohl in die Knie gezwungen.
„War es Nico, der mich in die Narben geworfen hat?", fragte sie. „Warst du es?"
Julian ließ die Hände sinken und sah sie entgeistert an. Stille senkte sich über sie. Die Frage war ernst gemeint. Sie hatte immer noch Angst vor ihm, wie in der Nacht, in der sie in diesen Raum gestolpert war, nass, schmutzig, mit den Gildentattoos auf der Haut und mit dem Akzent der Narben auf der Zunge. Wahrheit über Schmerz, hörte er Nico predigen.
„Mir wurde gesagt, du wurdest von Rebellen entführt und in der Wüste hingerichtet. Dein Körper verbrannt, bevor wir dich finden konnten."
Er hätte sie fast beim Namen genannt, bei dem Namen, der mit ihr gestorben war, aber konnte sich gerade noch zurückhalten. Wie er es seit Wochen tat.
Sie schwiegen lange und er bemerkte, dass sie instinktiv eine der Atemtechniken aus dem Atheneum anwandte. Ohne zu wissen, woher sie sie kannte. Es war kaum mitanzusehen.
„Wir haben Zeit heute Nacht. Es wird noch mehr. Brauchst du eine Pause?"
Sie hatte sich noch nicht vollständig erholt und er schätzte, dass sie irgendwann noch auf ihn losgehen würde. Er hatte so lange hiermit gewartet, wie er konnte. Julian sah ihr an, dass ein Teil von ihr jetzt schon Lust hatte, ihm weh zu tun. Dabei hatte er gerade erst angefangen und die weiteren Wahrheiten, die er auf der Hand hatte, waren alles andere als harmlos.
„Ich hole mir ein Glas Wasser", würgte sie hervor und stand auf.
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Skythief - Gefallene Sterne [2024 Version]
Science FictionIn den Narben, tiefen Schluchten am Rande der Hauptstadt eines Imperiums in der Zukunft, ist Cress Cye als rechte Hand eines Verbrecherfürsten gefürchtet. Die alten Monster, die dort in den Tiefen leben, kennt sie gut. Doch als eines davon so viel S...