70 - Arete Insel, Vor dem Feuer und am Wasser

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Cress spritzte sich Wasser ins Gesicht, um vollends wach zu werden. Die ganze Angelegenheit fühlte sich an wie ein Fiebertraum. Sie erwog wegzulaufen, nur für eine Sekunde. Dieses Mal würde van Garde nicht auf sie warten auf dem See. Doch sie war noch nicht fertig, sie wusste noch nicht alles. Sie war in die Narben gefallen für eine Erinnerung - ihre Erinnerung - und sie würde nicht dorthin zurückkehren, ohne die Wahrheit zu kennen.

Cress ließ sich unelegant zurück in den purpurnen Sessel vor dem Kamin fallen und lehnte ihren Kopf an.

„Mein eines Auge ist vielleicht blau, das sehe ich ein", stimmte sie zu. „Aber Adlige werden nicht in die Narben geworfen."

„Normalerweise nicht."

„Wieso ich?"

Er sah mit einem Mal aus, als würde er körperliche Schmerzen erleiden und das machte ihr mehr Angst als alles andere zusammen. Er war involviert. Mehr, als er zugegeben hatte.

„Meinetwegen."

Sie starrte ihn an. Ärger ballte sich zusammen in ihr, Ärger über Halbwahrheiten und dieses ewige Hinhalten.

„Ich wusste es", murmelte sie und griff nach der Whiskey Flasche. „Du warst es doch."

Dieses Mal zuckte er merklich zusammen. Cress hielt inne, die Kristallflasche in den Händen, ohne sie zu öffnen. Was sie gesagt hatte, traf ihn, aber anders als zuvor. Ihr ging auf, dass sie den Prinzen noch nie wütend gesehen hatte, doch bei dem Blitzen in seinen Augen wurde ihr klar, dass es furchteinflößend sein musste.

„Ich wollte das nicht heute alles ..."

„Wann dann?", fragte sie. „Es wird nicht besser."

Sein Blick wurde härter. Der Moment der Unsicherheit war vorbei. Er sammelte sich einige lange Augenblicke und sie wusste, dass sie nicht hören wollte, was er als nächstes sagte.

„Ich bin ins Exil gegangen, weil ich deinen Tod nicht verwunden habe", presste er zwischen den Zähnen hervor. Sein Blick schnappte zu ihr zurück und eine Königsdynastie sah sie an.

Ihre Hand ruhte auf der Whiskeyflasche und obwohl sie die Wärme des Feuers und die Kälte des Glases spürte, fühlte sie nichts davon. Julians Kiefer mahlten, während er seine Selbstkontrolle zurückgewann.

„Bitte was?", flüsterte Cress. Dass er ins Exil gegangen war, hatte man sogar in den Narben gehört. Der grauenhafte Prinz, der ans andere Ende der Welt flog, um das Imperium seines Vaters auszudehnen und eine Rebellion blutig niederzuschlagen. Was Julian sagte, passte nicht zu diesem Narrativ.

„Ich bin geflohen", sagte er. „Vor der Schuld. Vor meinem Vater. Und vor dir."

Cress Gedanken rasten. Die Zeit stimmte, drei Jahre war es her, dass sie in die Narben gefallen war. Vor drei Jahren hatte er den Palast verlassen. Doch der Gedanke, dass es einen Zusammenhang zwischen den beiden Ereignissen gab, war absurd. Käme die Andeutung nicht von dem Mann, der ihr gegenübersaß. Julian hatte eine Hand über die Augen gehoben, aber er senkte sie wieder und sah sie an.

„Jedes Mal, wenn du mich ansiehst, höre ich hämisches göttliches Lachen. Denn ich habe oft absichtlich Menschen vergessen in meinem Leben. Jetzt sitzt du mir gegenüber und weißt nicht, wer ich bin, dabei könnte ich nie irgendetwas an dir vergessen."

Er sah aus, als würden vor seinem inneren Auge Bilder tanzen und er müsse sie erst verscheuchen, bevor er weitersprach. Cress sah ihn voller Entsetzen an. Der Ton, die Verletztheit, mit der er es sagte, alles setzte ihre Haut in Flammen. Nicht auf eine gute Weise.

„Du warst eine Tochter des Hochadels. Das wäre vermutlich schon schlimm genug, um alles in Frage zu stellen. Aber das ist noch nicht alles."

Cress schwieg und nahm sich vor, so lange zu schweigen, bis alle Karten auf dem Tisch lagen. Jede einzelne davon.

Skythief - Gefallene Sterne [2024 Version]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt