Cress gewöhnte sich weder an das Haus, noch an den Himmel in den Tagen, die sie dort verbrachte. Jedes Mal, wenn sie an einem Fenster vorbeilief, lachte ihr die Sonne entgegen. Sie hatte gelernt, dass diese sie genauso verbrennen konnte wie der Regen in den Schluchten, aber ihre Schönheit zog Cress an wie das Licht die Motte. Erschwerend hinzu kam, dass sie nichts zu tun hatte.
Cress war vorsichtig gegenüber den Adligen, weil dieser Aufenthalt, der sich zwischen Gastfreundschaft und Gefangenschaft bewegte, sicher seinen Preis haben würde. Sie hatte versucht, herauszufinden, was genau es war, das man von ihr wollte. Doch entweder wusste Finja Arete nicht, was der Zweck von Cress Anwesenheit war, oder sie verriet es ihr nicht. Bis zwei Tage später mehrere blaue Mappen auf dem Nachttisch neben dem Bett auftauchten, das man ihr gegeben hatte.
Cress bemerkte sie erst, als sie aus dem Bad zurückkam. War jemand hereingekommen, während sie im Bad war, oder schon während sie noch geschlafen hatte? Es erstaunte sie, dass sie nicht aufgewacht war. Wie alle Geister, die rund um die Uhr damit rechnen mussten, dass Cyborgs durch die Fenster hereinbrachen, hatte Cress einen sehr leichten Schlaf. Sie sah hinaus auf den Gang, doch dieser war leer wie immer. Mit einem unguten Gefühl nahm sie das schwere Papier in die Hand. Es trug das Siegel der Monarchie, eingestanzt unter dem Namen einer Behörde. Das waren offizielle Dokumente.
Mit nassem Haar saß sie auf der Bettkante und blätterte durch die Akten. Die erste Mappe enthielt Grundrisse. Cress faltete das dünne Papier eines Bauplans auseinander, bis es beinahe ihr gesamtes Bett bedeckte. Das Gebäude war symmetrisch, als hätte es jemand aus Quadern zusammengesteckt, und hatte mehrere große Tore. Es musste ein großer Komplex sein, vielleicht doppelt so groß wie das Herrenhaus, in dem sie stand. Fünf Stockwerke. Cress markierte in ihrem Kopf die Ein- und Ausgänge, aber falls es dieses Gebäude war, in das sie einbrechen sollte, dann brauchte sie mehr als diesen Plan. Beispielsweise eine Liste der Gründe, wieso man sie schickte, und nicht irgendein gut ausgebildetes Soldatenteam. Sie war sich sicher, dass ihr diese Gründe nicht im Geringsten gefallen würden.
Die zweite Mappe enthielt Personalakten von rund fünfzig Menschen. Wissenschaftler, unter deren Namen rote Stempel mit den Worten „Senza" gepresst worden waren, was auch immer das bedeuten mochte. Ein paar Veteranen aus den Kämpfen um die Kolonien, zwei Architekten und einige Arbeiter aus verschiedensten Branchen. Cress breitete ihre Namen und Gesichter vor sich aus. Sie konnte sich nicht erklären, was sie gemeinsam hatten. Architekten ergaben Sinn, schließlich musste jemand das Gebäude erbaut haben. Veteranen der Aufstände und hochdekrorierte Wissenschaftler waren allerdings eine seltsame Kombination.
Cress fragte sich, ob es wohl ein Aufstand war, der irgendwo brodelte und das Pech hatte, das Augenmerk des Prinzen auf sich gezogen zu haben. Alleine, dass so viele Daten über sie gesammelt worden waren, zeugte von einer Art Kontrolle über Menschen, nach der sich alle Gildenfürsten der Narben die Finger lecken würden. Alter, letzter bekannter Wohnort, Familienstand, Kontostand, Verknüpfungen, Affären ... alles stand in feinsäuberlichen Zeilen dort auf dem Papier. Das waren Informationen, mit denen man Menschen zu Fall bringen und Existenzen an der Wurzel ausreißen konnte und jemand hatte sie ihr auf den Nachtisch gelegt, wie die Morgenzeitung, die Finja Arete laß.
Sie ließ die Akten dort, weil sie das Gefühl hatte, dass sie noch gefährlicher würden, wenn sie den Raum verließen. Cress ging nach draußen und versuchte das Gefühl abzuschütteln, dass sie beobachtet wurde. Dabei war es eine Art Beobachtung, der sie nicht entkommen konnte, indem sie sich versteckte. Name: Cress Cye. Alter? Da begann es bereits. Sie war sich sicher, dass irgendwo eine Akte existierte, die mehr über sie wusste, als sie selbst. Und auch, dass diese Akte sehr sicher vor nicht allzu langer Zeit in Julian Alessandinis Händen gelegen hatte.
Cress hatte einen großen flachen Stein gefunden, der etwas unterhalb der Villa auf den See hinaus ragte. Vom Haus her, konnte man nicht sehen, wenn dort jemand saß. Mittags heizte er sich auf und wenn die Sonne dann Richtung Horizont wanderte und es kühler wurde, war er immer noch warm. Sie lag auf dem Rücken, sah hinauf in den frühabendlichen Himmel und dachte nach über das Rätsel, das nach wie vor ausgebreitet auf ihrem Bett lag. Sie spürte die Wärme des Steins unter sich und strich gedankenverloren mit den Fingern darüber, so lange, bis sie beinahe eingeschlafen war.
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Skythief - Gefallene Sterne [2024 Version]
Ficção CientíficaIn den Narben, tiefen Schluchten am Rande der Hauptstadt eines Imperiums in der Zukunft, ist Cress Cye als rechte Hand eines Verbrecherfürsten gefürchtet. Die alten Monster, die dort in den Tiefen leben, kennt sie gut. Doch als eines davon so viel S...