Kapitel 11

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Mr. Probz - Waves

Dienstag, 16. Juli

Wir stehen am Flughafen. Wir werden in einer Stunde fliegen. Es wird kein Urlaub für mich sein. Die Definition eines Urlaubs ist für mich, dass man in einem fremden Land in Ruhe entspannen kann und Spaß und Freude mitbringt und dort auslässt. Aber ich werde mich weder entspannen, noch Freude und Spaß mitbringen. Ich habe Can in Ruhe gelassen, weil er total panisch war. Wenn ich wieder daran denke, zieht sich meine Brust zusammen. Es war die Hölle, Can so zerstört und so verloren zu sehen. Ich hoffe, er konnte sich beruhigen. Ob er wohl Albträume hatte, nachdem ich ihm mein T-Shirt dagelassen habe? Ich hoffe nicht. Ich würde alles tun, damit er nicht mehr in Panik verfällt. Er sollte zum Arzt und sich wenigstens Beruhigungstabletten verschreiben lassen oder Tropfen, die er sich auf den Handrücken tröpfeln kann. Wird er im Flugzeug neben mir sitzen? Vielleicht tauscht er den Platz, aber mit wem? Jeder möchte doch neben seinem Partner sitzen. Gott, ich hoffe, dass alles gut wird. Die Jungs müssten gleich da sein, solange gehen wir rein und setzen uns hin. Ich hoffe, dass der Urlaub nicht zu katastrophal wird. Vielleicht vertragen wir uns wieder? Urlaube bringen einen doch näher oder nicht? Durch die letzte Klassenfahrt nach Spanien waren Can und ich uns doch auch sehr nahe. Vielleicht kommt jetzt der Wendepunkt, an dem alles wieder gut wird, wir uns Stück für Stück näherkommen. Vielleicht werden wir uns wieder vertragen, die Narben gemeinsam heilen und hoch in den Himmel steigen.

Nach ungefähr fünf Minuten kommen auch die ganzen Jungs. Can sieht schlecht aus, so dünn für seine Verhältnisse. Ich habe Angst. Mein Herz schlägt schneller. Er schaut mich nicht an, was mir einen Stich verletzt. Betrübt senke ich den Blick und laufe mit den anderem zum Check-In. Zum Glück sind hier nicht viele, weil die Schulferien noch nicht begonnen haben. Dementsprechend sind wir schnell fertig, müssen unsere Koffer auf die Bänder legen, werden Kontrolliert und noch weiteres, bis wir dann zum Flugzeug gelangen können. Das Ganze verlief relativ still. Die Trennung von uns lässt nicht viel Dopamin frei. Wir steigen gleich in das Flugzeug. Gleich beantwortet sich meine Frage, ob Can neben mir sitzen wird oder nicht. Wir fliegen sowieso nur zwei Stunden und fünfzig Minuten. Wir könnten versuchen, das Ganze zu klären. Ich laufe auf meinen Platz zu und setze mich ans Fenster. Wer gleich die zwei Sitze neben mir einnehmen wird, weiß ich nicht. Ich sehe Can und Malik, und sofort pocht mein Herz. Mir steigen die Tränen auf, als er sich jedoch vor mich setzt und nicht neben mich. Ich muss ruhig bleiben, er ist verängstigt, vielleicht sogar traumatisiert. Malik hilft ihm, das ist okay. Ich senke den Blick und schließe kurz die Augen Jemand setzt sich zu mich und umarmt mich. Das ist Ramazan. "Alles gut", flüstert er. "Ich wünschte, es wäre so." Ich wische mir meine Tränen weg und lasse meine Mundwinkel zu einem kurzen Lächeln verrenken, als mich Meryem aufmunternd anlächelt. Es fasziniert mich wieder, wie wenig Eifersucht in ihr steckt.

Seufzend lehne ich mich zurück. Es sind zum Glück fünf Tage, weil Ramazan wegen neuen Medikamenten zurück muss. Ich danke dem Chef, dass Ramazan zurück muss, so opportunistisch und egoistisch es klingt. Diese fünf Tage muss ich durchbeißen. "Wir machen das Beste daraus. Du darfst mich schminken und wir ärgern Meryem." Ich schmunzele leicht. Die Stewardess stellt sich in die Mitte und beginnt mit der Sicherheitsanweisung, während irgendjemand kaum verständlich erklärt, wie man die Sicherheitsweste umlegt. Ich schließe die Augen und versuche es mir irgendwie gemütlich zu machen. Wir mussten schon um 05:30 Uhr raus, haben fast eine Stunde gebraucht, weil so wenige mit uns fliegen und kommen wahrscheinlich um 10:30 Uhr oder früher an. "Wie ging es ihm die Tage?", flüstere ich. "Nachdem du gegangen bist, ging es ihm sehr schlecht. Er musste sich übergeben und war total blass. Wir haben deine Anweisungen befolgt. Die Tage danach hat er sich dann beruhigt und war nur in seinem Zimmer." Oh Gott, er musste brechen. Wegen der psychischen Belastung? Mein armer Junge. "Hat er etwas gegessen?" Ich beiße mir seufzend auf die Unterlippe und schaue auf den Sitz vor mir, wo Can sitzt. "Wenig, er musste dann sofort brechen." Mir wird flau im Magen. "War er beim Arzt?" Ramazan verneint es. Verzweifelt fahre ich mir über mein Gesicht und seufze. "Hat er viel abgenommen?" Ich hoffe es war nur ein Kilo. Ein Kilo, den er im Urlaub schnell wieder zunehmen wird. "Er ist dünn geworden. Wie viel er abgenommen hat, weiß ich nicht, aber das sieht man ihm sehr an und dir auch." Mit einem leichten Lächeln kneift er mir in meine kleingewordene Wange.

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