Kapitel 45

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Jon Bellion - Woke The F*ck Up

Mittwoch, 5. März

Ich stehe urplötzlich in einem sterilen Raum. Es ist ein OP-Saal. Links und rechts sind OP-Schwestern, die auf mich warten. Mir werden Handschuhe angezogen und mein Kittel wird mir zugebunden. "Worum handelt es sich?", frage ich. "Um einen Hirntumor", antwortet eine Schwester. Alle Geräte laufen schon. Ich sehe zum Patienten, woraufhin ich mich verspanne. Ich operiere Can?! Seit wann ist das möglich? Das darf ich nicht! "Es soll ein sehr aggressives Glioblastom sein", informiert mich eine weitere Schwester. Schon wie automatisch beginne ich eine Kraniotomie. Ich spüre nichts, außer Angst. Ich darf keinen Fehler machen, ich darf keine einzige, ruckartige Bewegung machen, die Can irgendwie verletzen könnte. Ich muss Can retten, sonst bleibt er nicht bei mir. Wir können sonst nicht heiraten und glücklich werden. Wenn er stirbt, sterbe ich mit. Aber wie genau mache ich das jetzt? Ich habe seinen offenen Schädel vor mir, aber ich weiß gar nichts! Ich beginne zu zittern. Wieso muss ich das machen? "Dr. Salih, wenn Sie nicht weitermachen, sinkt der Hirndruck." Ich weiß aber nicht, was ich tun muss! "Ruft einen Neurochirurgen!" Ich schaue die anderen an, die auf Can schauen, so als ob sie mich nicht hören. "Holt verdammt noch mal einen Neurochirurgen!", schreie ich, doch niemand reagiert. Ich schaue auf die Monitore, wo plötzlich alles zu piepen beginnt. Sein Hirn-, und Blutdruck sinkt, Can erleidet jetzt sogar eine Tachykardie. Was ist hier los? Ich schaue hinunter auf Cans offenen Kopf, wo Blut hinausschießt. "HOLT EINEN NEUROCHIRURGEN!", schreie ich aus tiefster Seele.

Ich stehe ruckartig auf und bemerke, wie warm mir ist. Ich zittere am ganzen Körper, mein Atem ist hektisch. Was zum Teufel war das? Ich versuche mich zu beruhigen, fange aber dann an zu weinen. Das war der schlimmste Traum, den ich je in meinem Leben erlebt habe. Can ist in meinem Traum kurz vorm Sterben gewesen und das wegen mir. Ich wimmere und will mich beruhigen, aber der Traum hat mich viel zu stark mitgenommen. Heißt das, dass sein Tumor ein Glioblastom ist und ihn stark gefährdet? Heißt es, dass Cans Tumor extrem bösartig ist? Panisch greife ich nach meinem Handy. Es ist 03:03 Uhr. Ich muss Can anrufen, mir egal, ob ich ihn aus seinem Traum hole. Es tutet dreimal, ehe er rangeht.

"Ja?", brummt er verschlafen.

"Can? Geht es dir gut?", schniefe ich.

"Shana, was ist passiert?" Er wirkt sofort wacher.

"Ich-," Mir entkommt ein Wimmern, woraufhin ich mir sofort die Hand auf den Mund drücke und wieder anfangen muss zu weinen.

"Shana?"

"Komm bitte schnell zu mir, ich muss dich sehen", rattere ich mit nasalem Druck hinunter, ehe ich wieder leise weine.

"Ich komme sofort." Ich lege auf und atme tief durch.

Den Befund kriegt er spätestens am Montag. Vielleicht kriegt er ihn auch am Freitag? Vielleicht wird doch alles gut? Wieso macht man bei Can kein EEG oder keine intrakranielle Druckmessung? Was, wenn der Hirndruck rapide gestiegen ist oder abgenommen hat? Wo ist Can? Wieso braucht er so lange? Wie soll ich eine weitere Nacht schlaflos bleiben? Ich bin gestern nur nach Hause gekommen, weil ich Ranja nicht alleine lassen wollte, bis Nadim wieder da ist. Ich ziehe mir eine Short über und gehe solange in die Küche, wo ich zwei Brote in den Sandwichtoaster mache. Als Can dann endlich an der Tür klingelt, habe ich sein Toast auch schon gegessen. Ich öffne die Tür und renne sofort in seine Arme. "Hey, was ist passiert?", fragt er, ehe er mich hochhebt und in die Wohnung trägt. Wenn ich wieder daran denke, kommen wir die Tränen hoch. "Ich hatte einen Albtraum, er war scheußlich, Can." Fest schlinge ich meine Arme um ihn und lasse nur ungern ab, als wir auf meinem Bett liegen. "Erzähl." Sanft fährt er durch mein Haar und legt seine Hand auf meiner Wange ab, an die ich mich anschmiege. "Ich war in einem OP-Saal und ich musste dich operieren." Meine Augen sind beim Erzählen wehleidig geweitet. "Ich hatte keine Ahnung, wie ich das angehen muss und als ich gefordert habe, dass diese beschissenen OP-Schwestern einen Neurochirurgen rufen, haben sie urplötzlich nichts mehr gehört. Dein Hirn-, und Blutdruck sind gefallen, du hattest urplötzlich eine Tachykardie und ein sehr aggressives Glioblastom. Du-, du bist wegen meiner Unwissenheit gestorben, Can." Ich fange wieder an zu weinen und werde in seine Arme gezogen. Seine starken und beschützenden Arme, die mir immer Schutz und Geborgenheit bieten. "Dich nimmt die Tatsache echt stark mit", seufzt Can. "Wie denn auch nicht?", blaffe ich schluchzend. Wieso nimmt er es auf die leichte Schulter? "Wieso bist du überhaupt nicht depressiv oder so? Hat dir Dr. Merzinger gesagt, dass du stirbst oder was?" Can schmunzelt. "Dann hätte ich darum gebeten, dass du endlich mit mir schläfst. Bevor ich sterbe, möchte ich mich gerne mit dir vereinen", sagt Can mit seiner rauen, aber sanften Stimme, die mich beruhigt. "Sei still, du Sexsüchtiger. Mach mich nicht gefügig", murmele ich schluchzend. "Ich mache dich gefügig? Also würdest du mit mir schlafen, wenn ich kurz vorm Sterben bin?" Entgeistert sehe ich in sein grinsendes Gesicht und klatsche ihm eine. Es war zwar nicht fest, aber es hat gereicht, um ihn zu entrüsten. "Verstanden", murmelt er eingeschüchtert. Beruhigend fährt mir Can über meinen Rücken und schaukelt uns leicht hin und her. "Es war aber nur ein Traum", versucht er auf mich einzureden. "Träume können wahr werden", widerspreche ich. Can seufzt unbeholfen. "Wir atmen erst einmal tief durch. Es ist nichts passiert und so etwas wird auch nicht passieren, weil du erstens: nicht in die Neurochirurgie gehen willst und wirst, zweitens: noch nicht einmal die Lizenz hast, um operieren zu dürfen und drittens: dürftest du mich nicht operieren, weil ich dein Mann bin." Ich schaue verdutzt. Er hat recht. "Aber was ist, wenn ein anderer dich operiert und das alles dort passiert?" Can stöhnt auf und lehnt sich gegen mich. "Shana, denk nicht immer so negativ. Lass uns lieber etwas schlafen", murmelt er am Ende. Ich habe völlig vergessen, dass ich uns beide aus dem Schlaf gerissen habe. "Schlafen könnte ich jetzt auf jeden Fall besser."

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