Kapitel 105

44.5K 1.1K 238
                                    

Dean Lewis - Waves (Acoustic)

Mit schmerzender Seele schluchzte ich, warte ungeduldig, dass Shevin kommt und ich nicht mehr alleine bin. Was soll ich jetzt machen? Was muss ich jetzt machen? Ich bin gefangen in diesem Unglück und kann nicht mehr heraus. Es tut so verdammt weh, es brennt so verdammt stark. Meine Körper fühlt sich wie gelähmt an. Ich kann nur schwer meine Arme bewegen. Was passiert jetzt mit Can? Was machen sie jetzt mit meinem Mann? Ich zittere, weil ich Angst habe, dass er einen Anfall erleidet. Was passiert, wenn sein Kopf wieder so stark schmerzt? Wer soll ihn beschützen? Ich muss mit ihm doch in die Badewanne und meine Wassertherapie mit ihm machen. Was ist, wenn Can wieder von Albträumen geplagt wird? Wer wird meine Liebe vor seinen Lasten schützen? Ich schlucke diesen großen Klos runter, der meiner Luftröhre Platz nimmt und sie schmerzen lässt. Meine Augen verlieren immer mehr Tränen, ich verliere immer mehr Kraft. Wie oft denn noch? Wieso musste das passieren? Wieso hat Can das gemacht? Ich will nicht mehr und ich kann nicht mehr. Ich habe keine Kraft mehr. Zitternd atme ich durch und versuche mich zu beruhigen. Ich habe keine Kraft mehr. Meine Brust tut so verdammt weh, dass mein Unterbewusstsein mir befiehlt, zum Arzt zu gehen. Ich will nicht gehen und ich kann nicht gehen. Ich hatte doch oft genug Herzschmerzen wegen Can. Schmerzverzerrt halte ich mir meine Brust. Es tut wirklich weh. Ich atme tief durch und muss mich beruhigen. Ich muss auf Shevin warten, ohne sie weiß ich sonst gar nicht was ich tun soll. Wo genau ist Can jetzt? Was tut man jetzt mit ihm? Steckt man ihn sofort in eine Zelle? Er hat doch nicht einmal Wechselkleidung.

Langsam stehe ich auf, versuche nicht gekrümmt zu gehen, sondern meine Beine - wie sonst auch - gestreckt zu halten, doch die Lasten sind zu schwer. Ich schenke mir schniefend Wasser in das Glas ein, aus dem Can getrunken hat, aus dem ein Mörder getrunken hat, aus dem mein Seelenverwandter getrunken hat. Die Presse wird sicherlich Wind davon bekommen. Urplötzlich will ich alle Journalisten verbrennen, damit sie Can in Ruhe lassen. Das wird Cans Karriere doch zerstören. Das wird doch Cans Psyche belasten. Nein, das darf nicht passieren! Seine Onkel müssen Schweigegeld geben. Can muss doch Arzt werden. Und das Hammerexamen? Can muss die Prüfung doch bestehen! Wieso musste es jetzt passieren? Es klingelt, ich schleife mich zur Tür und warte sehnlichst darauf, Shevin zu sehen. Ich höre, wie sie schnell die Treppen hochsteigt und mich erschrocken ansieht. "Oh Gott, Shana." Sie nimmt mich in den Arm, was mich wieder so sentimental macht. Meine Brust bebt wieder und ich muss meine Beine zwingen, nicht nachzugeben. Sie schließt die Tür und fährt mir beruhigend über meinen Kopf. "Shana, wir kriegen das wieder hin." Ich weine stärker und schüttele den Kopf. "Sie haben ihn, Shevin. Was soll da noch gerettet werden?", wimmere ich. "Beruhige dich erst einmal, Shana. Wir gehen das Stück für Stück an." Ich höre auf Shevin, da mich ihr juristisches Wissen wirklich beruhigen könnte. Langsam lasse ich mich leiten und bringe uns ins Schlafzimmer, weil ich mich auf Cans Betthälfte legen will. Die Schranktür war doch vorhin noch ganz verschlossen. Ich schließe fest meine Augen, weil ich nicht daran denken will. Ich lege meinen Kopf auf das Kissen und atme Cans Duft ein.

Shevin fährt sich seufzend über ihr Gesicht. Ihr Bleistiftrock und ihre weiße Bluse sagen mir, dass sie ihre Arbeit stehengelassen hat. Na ja, das hier ist ein neuer Fall. Sie scheint aber ebenfalls überfordert zu sein. Verständlich, es geht um ihren kleinen Bruder. Ich drücke die Decke fest an mich. "Er wird erst einmal in U-Haft kommen, bis es dann zum ersten Gerichtsverfahren kommt. Innerhalb dieser vierundzwanzig Stunden wird er dem Richter vorgeführt." Wie wird Can sich verhalten? Was wird er sagen? Wie lange bleibt er dort? "Wie können wir ihm helfen?", flüstere ich. "Can", seufzt sie. "Er hat seinen Tumor wieder. Er will es auf den Tumor schieben", murmele ich. Shevin schaut mich aufmerksam an, während sie versucht ruhig zu bleiben. "Damit wäre er schuldunfähig, das heißt, es würde nicht zur Einbuchtung kommen", gibt sie etwas positiver von sich. Das heißt, das ist etwas Gutes. "Weißt du, ob es ein gutartiger oder bösartiger Tumor ist?" "Ich will es gar nicht wissen", gebe ich abwertend von mir. Can, was hast du da bloß angerichtet? "Ein medizinisches Gutachten wird auf jeden Fall angefordert. Das Problem ist, dass wir nicht wissen, ob der Tumor auch wirklich auf Cans Handeln Einfluss nimmt." Ich setze mich auf, atme tief durch und hole die professionelle Medizinerin aus mir heraus. "Ob gutartig oder bösartig, wenn er auf ein gewisses Areal drückt, kann es zur Beeinflussung des Bereiches kommen. Can leidet an einem Tumorrezidiv, also ist es höchstwahrscheinlich ein bösartiger." Mein Inneres fällt ein weiters Stück zusammen, als ich das registriere, was ich gesagt habe. Semi-maligner Tumor. Shevin nickt. "Also ist der Tumor wieder da, wo er davor war?" Ich nicke. "Und wo genau hat er draufgedrückt? Hat Can einen Befund?" "Ja, den Neusten, aber ich weiß nicht wo er ist." Sie summt. Shevin setzt sich zu mir aufs Bett und fährt mir über mein Bein. "Shana, was genau weißt du über seinen Tumor?" Sie schaut mich vorsichtig an und stellt diese Frage auch sehr vorsichtig.

AkzeptanzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt