Kapitel 47

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Ariana Grande - Break Free

Dienstag, 11. März

Gerade als wir gehen wollten, kommt Dr. Merzinger mit einem Brief in der Hand. Das ist der Befund. Wie gebannt schaue ich auf den Umschlag und dann in Dr. Merzingers Gesicht, welches mir aber nichts sagt. "Termin ist mit drin." Er lächelt, ehe er sich von uns verabschiedet. Oh Gott. Mein Bauch kribbelt. Wir erfahren endlich, worum es sich genau handelt. Langsam steigen wir in den Aufzug und dann ins Auto. Mein Blick ist auf den Brief gerichtet. Ich will ihn aufreißen. "Schnall dich an." Benebelt tue ich es und wende nicht einmal den Blick ab. Ich will ihn doch nicht aufreißen. Ich will es doch nicht mehr wissen. Was für ein Termin? Chemotherapie? OP? Bestrahlung? Welche Art von Chemotherapie? Kurative, adjuvante, neoadjuvante oder palliative Chemotherapie? Und danach? Welche Medikamente muss Can nehmen? Wie lange wird er danach bestrahlt? Ist es ein maligner oder ein benigner Tumor? Vielleicht ist einer der Tumore ein semibenigner oder ein semimaligner Tumor. Ich werde langsam hibbelig und ungeduldig. "Shana, alles wird gut." Can fährt mir über meinen Kopf und parkt das Auto. Wie schnell man doch am Ziel ist, wenn man null bei der Sache ist. Als er sich abschnallt, holt er von hinten einen Rosenstrauß hervor. Mir wird warm ums Herz. "Tut mir leid, dass ich die Woche so inaktiv mit der täglichen Rose war." Er küsst meine Stirn, nimmt den Brief und steigt aus. Als ich auf die schönen Rosen schaue, muss ich lächeln. Sie beruhigen mich etwas. Im Aufzug steigt die Spannung an - für mich. Can wirkt jetzt wie den ganzen Tag auch: entspannt, lässig, sorgenlos.

Ich greife seine Hand, als wir aus dem Aufzug steigen. Ich setze denselben Fuß wie Can an. Ich schaue auf seine Atmung und atme im selben Takt. Selbst beim Schuhe ausziehen, streife ich mir erst rechts und dann links den Schuh ab, genau wie er. "Ich würde gerne Malik noch hier hin rufen, bevor ich ihn öffne." Ich nicke. Gott, mir steigen jetzt schon die Tränen auf. "Willst du es deinen Eltern gar nicht sagen? Sie haben das größte Recht dazu, Can." Etwas unwohl schaut er zur Seite. "Wenn es nicht allzu schlimm ist, werde ich es ihnen so schnell wie möglich sagen." "Und wenn es schlimm ist? Willst du dann sterben, ohne ein letztes Mal mit deinen Eltern gesprochen zu haben oder was?", rufe ich leicht erbost. Gott, dieser Brief macht mich noch wahnsinnig. Can schaut mich überrascht an. Seufzend lege ich den Rosenstrauß auf den Tisch und halte mir den Kopf. "Shana, wie sehr nimmt dich das mit?", fragt er vorsichtig. "Ist das eine rhetorische Frage, Can?", gifte ich leicht. Mein Gesicht zeigt Entgeisterung, weil diese Frage doch nicht wirklich ernst gemeint war. Ich sehe leichte Überraschung in seinen Zügen, weil er mit meinem kleinen Temperamentsschub nicht gerechnet hat. "Can, ich schlafe nicht mehr richtig, seitdem ich weiß, dass da ein Tumor ist. Und nachdem ich von dir erfahren habe, dass da noch ein Tumor ist, habe ich die drei Tage im Bett gelegen, ohne zu schlafen, weil ich keine einzige Sekunde verschwenden wollte, dich nicht zu sehen." Meine Stimme bricht am Ende. Mir steigen die Tränen auf, die mir über meine Wangen rinnen. "Ich kann nicht schlafen, weil ich nicht schlafen will. Ich kann nicht nicht darüber nachdenken, weil es mich so sehr mitnimmt. Ich esse nur, weil ich weiß, dass du es nicht magst, wenn ich nichts esse. Ich habe dich doch erst seit kurzem wieder, ich will dich nicht wieder verlieren", wimmere ich. Can zieht mich in seine Arme und drückt fest zu. Ich brauche seine Nähe gerade - sehr.

"Shana, alles wird wieder gut", flüstert er. Ich schüttele den Kopf. "Das kannst du nicht wissen." Er wischt mir über die Augen und läuft mit mir in die Küche, wo er mir ein Glas Wasser gibt. Beruhigend fährt er über meinen Rücken. "Wieso hast du die Tage dementiert, dass du müde und erschöpft bist?", fragt er mich. "Ich war gar nicht so müde", murre ich. "Wenn man ständig hin und her gehen muss, schreiben, Blut abnehmen und vieles mehr tun muss, ist man nicht mehr müde, vor allem, wenn man etwas im Kopf hat, was einen stört und beschäftigt." Ich trinke das Wasser aus und tue es in die Spüle. Die Tür wird aufgeschlossen. Malik und Ramazan kommen rein, es ist Zeit. Wir lassen uns auf dem Sofa nieder. Die Spannung dehnt sich immer mehr aus. Ich fühle mich unwohl und will den Druck, der gerade in mir weilt, rausschreien. Can sitzt in der Mitte und öffnet den großen Briefumschlag. Da sind anscheinend auch CD und einige andere Dinge drin. Das gucke ich mir dann in Ruhe an. Ich schaue nicht auf den Brief, sondern auf Cans Mimik. Seine Augen bewegen sich hin und her, bis er an einem Punkt stehenbleibt und nickt. "Und?", fragt Malik ungeduldig. Can fährt sich über sein Gesicht und lehnt sich nach hinten, als er mir den Brief gibt. "Zwei Tumore", murmelt er. Aber das weiß er doch. Was steht da? Mein Herz pocht und meine Hände zittern, als ich den Brief in der Hand halte. Ich spüre, wie heiß mir wird.

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