Kapitel 35

45.1K 1.6K 417
                                    

Gnash - I hate u, I love u

Freitag, 31. Januar

Heute ist endlich der letzte Tag, Semesterferien! Jetzt muss ich nicht mehr so viel lernen und kann nach langer Zeit wieder ausschlafen. Das Einzige was mich gestört hat, war und ist, dass Can sich vollkommen distanziert verhält. Bis jetzt hat er auch nichts angesprochen, doch ich weiß, dass die Bombe bald platzen wird. Seine Wut kann ich nicht ganz nachvollziehen. Ich bin aber geduldig, bis Can sich wieder beruhigt hat. Hetzen bringt nichts. Wenn er darüber sprechen möchte, soll ihm gewiss sein, dass ich immer bereitstehe und ihm zuhöre. Can steht gerade in der Küche und bereitet noch schnell den Salat vor, bevor wir dann essen können. Besteck und Essen stelle ich auf den Tisch und warte bis auch Can sitzt. Schweigend essen wir. Sein Blick ist auf sein Essen gerichtet, während ich seine Haltung revidiere. Mürrisches Gesicht, breite Statur, lockerer Griff um den Löffel. Uns beiden schenke ich Cola ein, und räume dann, als ich fertig bin, schon mal auf. "Iss mehr." Meinen Teller lege ich in die Spüle und drehe mich dann zu Can, der den Stuhl neben sich zurückzieht. "Du brauchst mehr Nahrung im Bauch." Can zieht mich auf seinen Schoß, was mich überrascht und schlingt seinen Arm um meine Taille. "Ich bin aber satt." "Nein, du hast einfach zu viel Cola im Bauch." Das kann schon stimmen. "Mund auf." Lippenschürzend tue ich das und fühle mich etwas komisch, weil er mich füttert. Wenigstens ist er nicht mehr so kalt. Okay, er wirkt immer noch distanziert, aber dass ich auf seinem Schoß sitze, lässt das Ganze widersprüchlich erscheinen. "Magst du mir irgendwann mal erzählen, was genau dich so aufregt?" Er legt den Löffel in die Salatschüssel und schaufelt etwas Salat auf. "Später." Wenigstens etwas. "Ich kann auch selber essen, Can", sage ich, als ich dann Salat vor den Mund gehalten bekomme. "Du bist deiner Meinung nach satt, also bist du dann zu faul, um dich dann selber mit Nahrung zu versorgen. Mund auf." Da hat er recht.

Nach dem Abräumen klingelt es an der Tür. Schnell husche ich dahin und sehe Elif mit einem Umschlag in der Hand. Sofort muss ich grinsen. "Wäre schön, wenn du kommen würdest", gibt sie etwas verlegen von sich, als sie mir die Einladung übergibt. "Gerne und herzlichen Glückwunsch." Sie bedankt und verabschiedet sich und geht dann. Schmunzelnd öffne ich den Umschlag und schaue mir die schön gestaltete Einladung an. Am 22. Februar ist es, also bald. "Wer war das?", fragt Can. "Elif." Ich will gerade durch die Tür zu meinem Zimmer gehen, bleibe bei Cans misstrauischen Ton aber stehen. "Was wollte sie?" "Sie hat mir die Einladung gegeben." Bei seinem strengen Tonfall ziehen sich meine Augenbrauen zusammen. Er spannt sich an und schaut mir mit einem wütenden Blick in die Augen. Was hat er jetzt schon wieder? "Du gehst nicht." Entgeistert schaue ich ihn an. "Wir haben es doch schon geklärt, Can. Wieso machst du den Scheiß jetzt schon wieder auf?", gebe ich wütend von mir. "Ich mache den Scheiß sooft auf, wie ich will. Du gehst da nicht hin, verstanden?", zischt er und stellt sich dicht vor mich. "Du kannst mich mal, Can. Ich werde hingehen. Ruf dir die letzte Diskussion wieder hervor, dann weißt du, was ich alles sagen werde. Was zum Teufel ist überhaupt dein beschissenes Problem?" Es regt mich so auf, dass er wieder damit anfängt. Kann er es nicht beim Kompromiss belassen? "Wieso können alle heiraten, aber wir nicht?!", schreit er mich an und zieht mich an meinem Oberteil an sich. Ich schubse ihn weg. Mein Herz rast gerade. Was soll ich darauf antworten? "Jeder will seine Liebe heiraten, jeder kann es. Wieso kannst du mich nicht heiraten? Bin ich nicht gut genug für dich? Was muss ich noch für dich machen?", brüllt er. Seine Halsader sticht hervor. Can ist schon rot vor Wut. Mein Atem ist zittrig, weil ich nervös und wütend bin. "Siehst du es denn nicht?", rufe ich erzürnt und öffne meine Arme. "Siehst du das Schlamassel nicht mehr? Siehst du nicht, dass du Blind vor Wut bist? Siehst du die ganzen Probleme nicht mehr, Can?"

Can atmet wütend durch seine Nase und rauft sich seine Haare. Ich kann Can absolut nicht nachvollziehen. Seine Wut ist nicht berechtigt! "Ich will es doch selber, ich würde so gerne heiraten wollen, aber woher sollte ich wissen, dass du an einer Krankheit leidest, die mich schon skeptisch gemacht hat? Can, du kannst dich noch weniger kontrollieren, als vor vier oder fünf Jahren. Siehst du nicht, wie gefährlich du bist?" "ICH BIN NICHT GEFÄHRLICH!", schreit er und boxt gegen die Wand. Ich zucke kurz zusammen. Wieso kann er sich dann nicht normal ausdrücken und muss so randalieren? Wieso sieht er nicht, was er alles anstellt? Was geht in seinem Kopf nur vor sich? Welcher Dämon flüstert ihn das zu und befiehlt ihm, so mit mir umzugehen? Wie kann ich Can bloß helfen? Ich verdränge die Gedanken und richte mich auf das Hier und Jetzt. Meine Augenbrauen ziehen sich zitternd zusammen. Erst jetzt spüre ich mein rasendes Herz wieder. "Dann rede doch wie ein normaler Mensch und nicht wie die Aggression in Person!" Wieder zittern Knie und Hände. Mir steigen vor Wut die Tränen auf, doch ich kann sie noch gefangen halten. "Ich werde auf die Hochzeit gehen und ich werde mir Zeit lassen, bis alles geklärt ist. Ich kann dich nicht heiraten, wenn du voller Aggressionen bist und jederzeit zuschlagen kannst, Can. Dir ist gar nicht bewusst, wie ausschlaggebend dein Verhalten ist." "Du kannst mich heiraten", knurrt er und drückt mich an meinem Hals gegen den Rand der Tür und das mit voller Wucht. Ich schreie auf. Mein Kopf und Rücken füllen sich mit Schmerzen. Mein Kopf dröhnt und ich kriege wegen dem, was gegen meinen Rücken geknallt ist, keine Luft. Ich darf nicht in Panik verfallen, aber ich kriege keine Luft! Es ist ein so ekelerregendes Gefühl. "Shana?!" Ich kann nicht antworten. In meinem Kopf piept und pocht es. Mir rollen die Tränen über die Wangen. Er hat mich angegriffen. Der Fakt lässt mich noch weniger Luft bekommen. Wieso hat er mir das angetan? Wieso musste er das tun? Gab es denn keinen anderen Weg? Can gerät in Panik und läuft hin und her. Langsam lehne ich mich nach vorne, damit ich meinen Brustkorb entlasten kann und so besser atmen kann. "Shana, es tut mir so leid!" Er geht weiter weg von mir, kommt aber wieder zurück. "Shana, bitte ganz ruhig bleiben." In seinen Augen sind Tränen, die meine Lage nicht bessern. Mir wird schwindelig, aber meine Atmung verbessert sich. "Bring mich ins Ba-, muss brechen." Can trägt mich ins Bad und hält mir die Haare zurück, als ich mich über die Kloschüssel beuge und direkt brechen muss. Mehr Tränen steigen mir auf, weil mein Magen sich zusammenzieht. Die inneren Schmerzen sind schrecklich. Es soll doch nur aufhören, bitte. Ich werde auf die Wanne gesetzt. Mir ist immer noch schwindelig. "Shana, ich flehe dich an, bitte verzeih mir" flüstert Can zitternd, der mir den Mund wäscht und danach abspült. "Ich helfe dir, ich mache es wieder gut", verspricht er mir heiser. Wann? Can, wann willst du es tun? Kurz setzt er mich auf dem Sofa ab, nimmt sich seine und meine Schlüssel, woraufhin er sich die Schuhe anzieht und mich wieder trägt. Ohne Schuhe und Jacke trägt er mich die Treppen hinunter und setzt mich ins Auto. Mein Hinterkopf pocht immer noch und die Tatsache, dass Can mir wehgetan hat, schmerzt unheimlich.

"Shana, ich bin-, bitte sei gesund", flüstert er und drückt meine Hand. Seine Hand zittert, seine Angst ist zu spüren. Ich schließe meine Augen und lasse die Tränen stumm raus. Wie verzwickt und verbittert unsere Lage doch ist. So hässlich und voller Negativität. Wir kommen am Krankenhaus an. Can will mich wieder tragen, doch ich drücke ihn weg. Ich weiß, dass ihn das verletzt. "Ich kann laufen", fauche ich leise. Trotzdem muss ich mich abstützen. Ich gebe Bescheid, dass ich gestürzt bin, woraufhin ein CT auf mich wartet. Can muss jetzt wohl wieder einen Krieg mit sich selber führen. Bestimmt rauft er sich wieder sein schwarzes Haar und gibt sich die Schuld für alles. Er hatte Tränen in den Augen, was ich nicht oft sehe bei ihm. Ich will doch nur ein friedliches Leben mit Can haben. Wie lange muss ich mich noch mit Geduld zufriedengeben? Wann ist es endlich vorbei? Ich warte voller Sehnsucht auf mein Praktikum, vielleicht klärt sich alles dann. Einige Tests werden gemacht, ich werde abgefragt, woraufhin ich für wenige Stunden im Krankenhaus zur Beobachtung bleiben muss - aber nicht für vierundzwanzig Stunden. Schweigend liege ich auf dem Bett, Can neben mir auf dem Stuhl, der mich nervös ansieht und sich schon zum fünften Mal durch sein Haar fährt. "Shana?", flüstert er. "Shana, ich wollte das nicht", beteuert er heiser. "Du hast es aber getan", gebe ich monoton von mir. "Ich gebe dir so viel Zeit, wie du willst. Du kannst bis zum Schluss auf der Hochzeit bleiben, scheiß auf den Kompromiss. Mach alles, nur verlass mich nicht", flüstert er brüchig zum Schluss. Oh, Can, ich habe jedes Recht dich jetzt zu verlassen, nur kann ich es nicht. Ich kann dich nicht in deiner Dunkelheit alleine lassen. So sehr ich es vielleicht mal möchte, es geht nicht. Ich bin zu sehr an dich gebunden. "Soll ich Ranja oder so anrufen?" Ich schüttele den Kopf. "Du erzählst es niemanden", flüstere ich. "Ich-, ja, versprochen. Brauchst du etwas? Ist dir kalt?" Ich schüttele den Kopf. Ich fühle mich so leer gerade. Leer und irgendwie trotzdem voll. Voll mit Enttäuschung und Verletzlichkeit und vor allem Abhängigkeit.

Nach fünf Stunden darf ich wieder gehen. Can war stumm neben mir und das die ganze Zeit. Seine stille Geduld hat mich überrascht. Meine Werte haben sich nicht verändert und sind wieder normal. Ich soll morgen trotzdem vorbeikommen. Es war nur eine leichte Gehirnerschütterung. "Ich kann dich jetzt nicht alleine lassen", gesteht Can geniert. "Ich würde voller Schuldgefühle schreien. Ich muss mir sicher sein, dass es dir gut geht." Er fährt zu sich. "Ich will zu mir." Can wechselt sofort die Richtung. "Und ich will alleine schlafen." Er guckt mit offenem Mund zu mir. "Aber... aber-," "Ich will alleine schlafen, Can." Ich möchte ihn gerade nicht bei mir haben, egal wie schön es auch wäre, wenn wir gemeinsam im Bett liegen können. "Wenn dich das glücklich macht", flüstert er seufzend. Mich würde es glücklich machen, wenn du nicht mehr so aggressiv wärst. Mich würde es unfassbar glücklich machen, wenn wir keine Probleme mehr hätten. Ich wäre total glücklich, wenn wir uns mehr wir normale Paare streiten könnten. Ach, Can, mein Leben wäre viel einfacher, wenn ich jemand anders an meiner Seite hätte, aber ich wäre nicht einmal halb so glücklich, wie mit dir. Wir kommen bei mir an. Can will mich tragen, doch ich lehne es ab und laufe langsam hoch. Can folgt mir und sitzt dann am Ende mit mir auf meinem Bett. Es herrscht Totenstille, aber etwas anderes hätte ich nach dem Intermezzo nicht erwartet. Es kommt mir so komisch vor, wenn ich ihn wegen seines heutigen Ausrasters verlassen würde. Es kommt mir paradoxerweise wie eine Lappalie vor, obwohl es eben keine ist und war. Es ist ein berechtigter Grund, um Schluss zu machen. Nur kann und will ich nicht, was ich mir selber nicht erklären kann. Ich nenne es einfach das antagonistische Shana-Syndrom, passend wie ich finde. Ich muss wohl oder übel die Konsequenz eingehen, wenn ich irgendwann mal glücklich werden will. Wie lange muss ich in dieser Dunkelheit mit dir verweilen, Can? Wie lange werden wir uns noch schneiden, bis wir irgendwann mal den gewünschten Seelenfrieden in den Händen halten können, voller Stolz und Freude? Wie lange werden die Dämonen bei uns verweilen, uns quälen und knebeln, bis wir erlöst werden? Gott, was wird noch alles auf uns zukommen, bis wir endlich Glück haben? Wie viel Geduld brauchen wir - oder ich? Ist es viel, mittel oder wenig? Sind es Jahre, Monate oder Tage? Stunden, Minuten oder Sekunden?

Die schmerzhafte Konsequenz, dich zu lieben, wird mich irgendwann mal belohnen.

AkzeptanzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt