Kapitel 10

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Die ganze Nacht über unterhielten sie sich, bis Diana schließlich auf stand und rüber ging. Dort war Liam noch tief und fest am Schlafen. Lächelnd setzte sie sich zu ihm auf die Bettkante und strich ihm sanft über den Kopf. Kurz darauf schlug er auch schon die Augen auf und schaute sie groß an.
"Guten Morgen, Schatz!", sagte sie gut gelaunt.
"Morgen.", kam es nur von ihm.
"Wie geht's dir?"
"Gut."
"Wirklich?"
"Ja. Ich hab doch gesagt das ist nur eine Grippe. Alles gut."
"Gott, bin ich jetzt erleichtert! Schon mal eine Sorge weniger."
"Was hast du denn sonst für Sorgen?"
"Unsere drei Quälgeister halten mich nur ganz schön auf Trab."
"So, wie du aus siehst, hast du nicht gerade viel bis gar nicht geschlafen."
"Die Tendenz geht eher in Richtung gar nicht. Wenns hoch kommt vielleicht drei Stunden."
"War das so schlimm? Ich hab gar nichts mit gekriegt."
"Deinen Schlaf will ich haben! Die Kleine hat die halbe Nacht durch geschrien."
"Und was hast du in der anderen Hälfte gemacht?"
"Mit Jim gesprochen. Dem ging es nicht so gut."
"Hab ich den schon angesteckt?"
"Ne. Der hat die Probleme eher psychisch. Da haben wir viel geredet."
"Ach nö. Nicht das auch noch."
"Das ist aber nichts dramatisches. Das kriegt man mit Reden denke ich wieder hin."
"Schon gar nicht so schlecht, dass du damals Psychologie studiert hast."
"Ja. Das zahlt sich jetzt aus."
"Was hast du denn heute noch so geplant? Kann ich irgendwie helfen?"
"Ja. Könntest du gleich so für zwei bis drei Stunden auf die Kleinen auf passen?"
"Ja klar. Kein Problem."
"Super. Ich mach jetzt erstmal Frühstück. Kommst du dann auch?"
"Ja. Ich komme dann."
"Gut. Bis gleich!"
Sie verließ den Raum nun wieder und ging in die Küche, wo Jim bereits dabei war den Tisch zu decken.
"Und?", fragte er.
"Alles wieder gut.", berichtete sie erleichtert.
"Na siehst du. Hab ich doch gesagt."

Gemeinsam machten sie nun Frühstück, bevor Diana dann los ging, um nach den Kleinen zu sehen. Diese schliefen allerdings noch tief und fest. Glücklich schaute sie zu den Dreien herunter. Das waren ihre Kinder und sie waren so unglaublich süß! Im selben Moment erfasste sie allerdings auch die Trauer. Diese Kinder würden ihre Oma niemals kennen lernen. Für sie wird sie nur auf Bilder und in Form eines Grabes existieren. Dabei war sie so ein toller Mensch!
Schon lief eine Träne ihre Wange entlang. Jim hatte Recht. Sie musste damit endlich ab schließen! Sie musste ein letztes Mal da hin. Ein letztes Mal musste sie sich von allem verabschieden und endlich einen Schluss Strich ziehen.
Weinend stand sie vor ihren Kindern, als Liam zu ihr kam und sie sanft in seine Arme schloss.
"Süße, es tut mir so leid! Ich hab gerade erst auf den Kalender geguckt. Ich hätte das nicht vergessen dürfen. Es tut mir so leid!", sagte er und strich ihr immer wieder beruhigend über den Rücken.
"Alles ist gut. Du musst dich nicht entschuldigen.", schluchzte sie und lehnte sich an ihn.
Schweigend blieb er einfach nur ruhig stehen und strich ihr immer wieder tröstend über den Rücken, bis sie sich wieder von ihm löste und mit ihm in die Küche ging. Dort aßen sie schweigend, bis Liam schließlich fragte: "Willst du heute hin?"
"Ja. Jim und ich wollten gleich hin fahren. Könntest du so lange auf die Kleinen auf passen?"
"Ja klar. Fahrt ihr mal. Und denk dran, was ich dir gesagt habe. Es würde dir vielleicht helfen."
"Das haben wir vor. Wir wollen nochmal in das Haus gehen."
"Na endlich. Vielleicht kannst du dann endlich damit ab schließen."
Nun herrschte wieder Ruhe, bis eines der Kinder zu schreien begann. Wortlos stand sie auf und kümmerte sich um ihre Kinder. In Ruhe wurde eins nach dem anderen versorgt, bevor sie sich dann selbst fertig machte. Müde schaute sie durch ihren Kleiderschrank und entschied sich schließlich für ein schwarzes Kleid, das ihr etwa bis zu den Knien ging. Verziert war es mit Ranken und Blumen Ornamenten. Ihr Konfirmations Kleid und das Lieblings Kleid ihrer Mutter. Zu besonderen Terminen und gerade an Tagen, wie ihrem Geburtstag oder ihrem Todestag, trug sie es oft.
In Ruhe zog sie sich das Kleid an und schminkte sich schließlich noch ein wenig. Dann verließ sie den Raum und ging in das Wohnzimmer, wo Jim bereits mit Liam zusammen wartete.
"Du siehst toll aus!", sagte Liam und stand nun auf, um zu ihr zu gehen.
"Wollen wir los?", fragte Jim. Diana nickte nur.
Liam schloss sie nun noch einmal in seine Arme und sagte: "Du schaffst das. Es wird dir helfen. Bestimmt."
Sie blieb nur ruhig stehen, bis er sie wieder los ließ.
"Dann komm.", sagte Jim nun und sie verließen gemeinsam das Haus. Schon bald saßen sie im Auto und kamen etwa eine halbe Stunde später am Friedhof an. Auf dem Weg dort hin holten sie noch ein paar Rosen. Die Lieblings Blumen ihrer Mutter.
Gemeinsam gingen sie nun zu dem Grab. Dort blieben sie stehen und jeder von ihnen legte ein paar Blumen auf das Grab. Schweigend standen sie nun da und hingen einfach nur ihren Gedanken nach. Es war für Diana nicht einfach vor dem Grab ihrer Mutter zu stehen und auch Jim fiel das nicht leicht. Er riss sich allerdings so gut es ging zusammen. Er wusste, dass Diana ihn brauchte. Sie war zwar mittlerweile erwachsen, aber es gab einfach Momente in denen auch sie jemanden brauchte, der für sie da war und jetzt gerade war so einer. Sie brauchte ihn jetzt. Das wusste er und er würde jetzt stark bleiben. Für sie.
Es dauerte eine Weile, bis ihr schließlich die Tränen kamen und sie zu schluchzen begann. Sanft legte Jim einen Arm um sie. Er sagte jedoch nichts. Was sollte er auch sagen? Das alles gut wurde? Das wurde es nicht. Sie war tot und sie würde sie nie wieder sehen. Es würde nie alles gut werden. Sie wird ihre Mutter nie wieder sehen. Genauso wenig, wie er auch. Das war nun einmal so.
"Ich vermisse sie! Ich vermisse sie so schrecklich!", schluchzte sie nach einer Weile.
"Ich weiß. Das tue ich auch, aber sie ist gegangen. Es war ihre Entscheidung zu sterben und du wirst sie leider nicht wieder sehen.", sagte er beruhigend.
"Warum hat sie uns das an getan? Warum?"
"Ich weiß es nicht. Ich verstehe das ja auch nicht. Wir konnten ihr damals leider nicht in den Kopf gucken und wir werden es auch niemals können. Mum war krank. Wir werden niemals verstehen, warum sie das getan hat. Wir haben diese Krankheit nicht. Wir können sie nicht verstehen."
"Warum hat sie nicht wenigstens einen Brief geschrieben? Warum hat sie uns nicht mal die Chance gegeben sie zu verstehen? Warum konnten wir uns nicht von ihr verabschieden? Warum?"
"Kleine, ich weiß es nicht. Ich stelle mir doch die gleichen Fragen. Ich weiß nur, dass sie tot ist. Auf die ganzen anderen Fragen kann dir niemand eine Antwort geben. Sie hat es nun mal getan und niemand weiß warum. Das weiß nur sie selbst und sie kann uns keine Antworten mehr geben."
Nun herrschte wieder Stille, bis sie schließlich den Friedhof verließen und zu ihrem alten Haus gingen. Es war nicht weit weg von dem Friedhof und so gingen sie zu Fuß.
An dem Haus angekommen schauten sie sich an. Ein letztes Mal atmeten sie beide tief durch und Jim schloss die Tür auf. Langsam betraten sie das Haus. Schon seit 17 Jahren waren sie beide nicht mehr dort gewesen. Das Haus stand seit dem leer und alles war so geblieben, wie sie es verlassen hatten. Langsam gingen sie durch das Haus, bis sie schließlich vor einer Tür stehen blieben.
"Willst du wirklich rein oder sollen wir wieder fahren?", fragte Jim nun und strich ihr sanft über den Rücken.
"Nein. Ich muss da jetzt noch einmal rein. Liam hat Recht. Ich brauche das, um damit abschließen zu können.", sagte sie jedoch mit zittriger Stimme.
"Okay.", sagte Jim und öffnete nun die Tür. Langsam betraten sie den Raum und schlossen die Tür hinter sich.
"17 Jahre ist es jetzt schon her und es fühlt sich immer noch so an, als wäre es nur ein paar Stunden.", sagte sie.
"Ja. Dabei ist in der Zeit so viel passiert."
"Da lag sie. Mit der riesigen Blut Lache neben sich.", sagte Diana nun und deutete auf den Boden. Noch immer war der Holz Boden verfärbt und erinnerte an das, was passiert war. 13 Jahre war sie alt, als sie ihre Mutter fand. Ihr Vater war noch vor ihrer Geburt gestorben. Ihre Mutter und Jim waren alles, was sie hatte und sie waren immer eine glückliche, kleine Familie. Bis zu diesem einen Tag. Es war ein Mittwoch. Ungeplant kam Diana eher nach Hause, doch ihre Mutter war nicht da. Verwundert war sie hoch gegangen, um nach ihr zu schauen, als sie sie gefunden hatte. Mit einem Messer neben sich lag sie dort auf dem Boden im mitten eimer einer riesigen Blut Lache. Sie hatte sich die Halsschlagader auf geschnitten. Für Diana brach damit eine Welt zusammen. Ihre kleine, glückliche Welt war zerstört. Seit dem sorgten Jim und Liam für sie. Sie hatten sich immer perfekt um sie gekümmert und sie war ihnen dafür unglaublich dankbar, aber diese schrecklichen Bilder hatte sie trotzdem nie aus dem Kopf bekommen und jetzt kam alles wieder hoch. Der ganze Schmerz und die ganze Verzweiflung war wieder da und es fiel ihr schwer nicht darunter zusammen zu brechen. Das war einer der Zeitpunkte, wo ihr alles zu viel war und sie einfach nicht mehr konnte. In solchen Augenblicken war sie froh, dass Liam und Jim für sie da waren und alles gaben, um ihr zu helfen.
"Geht's oder sollen wir wieder gehen?", fragte Jim besorgt. Er merkte, dass es seiner Schwester nicht gut ging. Er wusste, wie schwer es ihr fiel in diesem Raum zu stehen. Sie hatte alles gesehen. Sie hatte ihre Leiche gesehen. Das war etwas, was ihm erspart geblieben war. Trotzdem wünschte er sich, dass er sie gefunden hätte und nicht Diana. Er hätte damit vielleicht besser klar kommen können. Er war zu diesem Zeitpunkt immerhin schon 18 und nicht erst 13.
"Was ist das?", fragte sie nun und deutete auf die Kommode, wo eine weiße Ecke eines Briefumschlags heraus ragte.
"Das ist ein Brief.", sagte Jim und ging nun los, um den Umschlag hervor zu holen.
An Diana und Jim stand in ihrer Handschrift darauf.
"Du weißt, was das ist, oder?", fragte Jim und ging nun zurück zu ihr. Sie nickte nur und meinte: "Lass uns gehen. Ich kann das hier nicht mehr."
"Okay. Dann komm.", sagte Jim und legte sanft einen Arm um sie. So verließen sie das Haus wieder und gingen zu dem Park ein paar Meter weiter. Dort setzten sie sich einfach in das Gras und Jim öffnete vorsichtig den Briefumschlag. Es war ungewohnt nach so vielen Jahren wieder etwas von ihr in der Hand zu halten. Als wäre er aus Glas holte er den Brief heraus und begann laut zu lesen: "Liebe Diana, Lieber Jim. Es tut mir unendlich leid, dass ich euch allein lassen muss, aber ich kann das einfach nicht mehr. Ich halte es nicht mehr aus zu leben. Liebend gerne würde ich einfach irgendwelche Tabletten nehmen und alles wäre wieder gut, aber das geht nicht. Mir kann keiner mehr helfen und über kurz oder lang würde ich sowieso sterben. Es tut mir leid, dass ihr es so erfahren müsst, aber ich bringe es einfach nicht über das Herz mit euch zu reden. Ich habe Krebs im Endstadium und spätestens in zwei Jahren würde ich sowieso sterben. Wenn ihr das hier lest, habe ich dem ganzen schon ein Ende bereitet. Ich konnte und wollte nicht mehr leben. Es tut mir leid, aber es geht nicht. Ich weiß, dass ihr das nicht verstehen könnt und das ihr es niemals verstehen werdet, aber bitte lebt einfach weiter. Seid weiterhin so glücklich und lebt weiter, wie vor diesem Vorfall. Ich sitze oben auf meiner Wolke und passe auf euch auf. Diana, du ziehst bitte zu Jim. Ich weiß, dass du in diesem Haus niemals mehr leben kannst. Und Jim du passt bitte gut auf sie auf! Ihr habt jetzt nur noch einander und das wird schwer, aber ich weiß, dass ihr stark seid und dass ihr das schaffen könnt! Ich weiß, dass ihr auch ohne mich leben könnt. Passt auf euch auf! In Liebe Mum."
Mit jedem Satz versagte seine Stimme mehr und die letzten Worte glichen mehr einem Krächzen. Diana neben ihm weinte bitterlich und auch ihm standen die Tränen in den Augen. Es war einfach unglaublich berührend und traurig, was ihre Mutter da geschrieben hatte. So gut er konnte, riss er sich allerdings zusammen. Diana brauchte ihn jetzt und er musste jetzt für sie stark sein.
Traurig faltete er den Brief wieder zusammen und steckte ihn wieder in den Umschlag. Dann wand er sich Diana zu. Sanft legte er einen Arm um sie und sie legte ihren Kopf auf seine Schulter.
So saßen sie lange Zeit in dem kleinen Park. Um sie herum wurde es langsam Herbst und die Vögel zwitscherten fröhlich, während sie traurig auf einer Wiese saßen. Langsam fing Diana sich allerdings wieder und wischte sich mit einem Taschentuch die Tränen weg. Schweigend standen sie nun wieder auf und gingen noch eine Runde durch den Park.

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