Kapitel 10.

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Julia Mertens P.o.V

"Etwas ist mir aufgefallen...bei Andreas. Seine Erzählung stimmt nicht mit den Informationen überein, die ich aus den Akten der Familie habe...", flüstere ich Paula zu, während wir durch die Scheibe aufmerksam den schlafenden Jungen auf dem Bett betrachten.

Andreas hatte um Schlafmittel gebeten, weil er nicht schlafen könne, doch die hatte er vom zuständigen Arzt nicht bekommen, vielleicht wegen der Notiz über Schlafmittel-Missbrauch oder seines unsicheren Gesundheitszustand wegen. Irgendwann war er dann wohl tatsächlich eingeschlafen, das lockig-zerzauste dunkle Haar wie ein Kranz um ihn herum aufgefächert, mit bleichem Gesicht auf dem die bläulichen Flecken noch stärker hervortraten und den schmalen Körper unter der Decke fest zusammengerollt.

"Du hast die Akten bekommen?", antwortet meine Kollegin ebenso leise wie ich, ohne den Blick von Andreas zu nehmen.

"Ja. Von der Polizei und nun auch die Krankenakte von Andreas."

"Und?"

"In der Krankenakte allein steht nichts wirklich spezielles, -kaum etwas eigentlich, aber im Vorstrafenregister und den Anzeigen von der Familie Stern aus...da stand...Anzeige gegen unbekannt, bei einem Autounfall. Sein Zwillingsbruder, Samuel Stern, ist bei diesem Autounfall ums Leben gekommen, schweres Schädelhirntrauma, -sofort tot. Das war 2006. Aber Andreas...er hat mir erzählt sein Bruder sei mit seinem Vater weggezogen, nach einem Autounfall. Dabei ist allerdings nicht sein Bruder verletzt worden, sondern er selbst. Er lag im Koma und als er wieder zu sich gekommen ist, waren die beiden weg."

"Glaubst du er lügt?"

"Nein, ich glaube er ist angelogen worden. In seiner Krankenakte steht "retrograde Amnesie und leichte Kopfverletzungen". Auch die Mutter war danach in psychologischer Behandlung, ein schweres psychisches Trauma nach dem Verlust ihres Kindes und wohl auch ihres Mannes."

"Ist er abgehauen? Hat er einfach seine Familie zurückgelassen, gerade in diesem Moment?", ruft Paula etwas zu laut, so dass ich ihr einen alarmierten Blick zuwerfe.

"Er lebt jetzt unter anderem Namen hier in der Nähe. Leopoldstrasse 14, Frank Frei heisst er und eine neue Familie hat er auch wieder", antworte ich wobei mir ein zynisches Lachen entfährt.

Einfach den Schlussstrich gezogen und wieder neu angefangen. So einfach ging das für manche Leute. Die perfekte Familie ist kaputt? Wegwerfen und eine neue bilden, ist einfacher, als die alte zu retten.

"Hast du ihm schon angerufen?"

"Nein, aber ich denke nicht, dass es ihn jetzt interessiert, wenn er damals einfach abgehauen ist", murmle ich niedergeschlagen.

"Versuchen wir es wenigstens einmal... "

"Was hältst du bis jetzt von Andreas Stern?"

"Er ist klug, sehr klug sogar. Überdurchschnittlich intelligent würde ich sagen, sehr ehrlich, aber auch ziemlich abweisend. Er scheint seine Gefühle wirklich gut im Griff zu haben und seine Mutter bedeutet ihm wahnsinnig viel. -Aber er verschweigt mir das Meiste. Er meint er würde niemanden verraten, -ausserdem ist da irgendetwas merkwürdig im Bezug zu seiner Mutter...aber ich weiss nicht genau was."

"Weshalb wollte er sich umbringen? Ich...verstehe es nicht. Ich verstehe es immer noch nicht, wieso man das Leben einfach wegwerfen will, besonders bei Andreas. Jemand der so rational denkt, der nicht an Religion glaubt...und eine Kurzschlussreaktion war es auch nicht...Er hat das alles geplant und...es ist verdammt schwierig es zu verhindern...", bricht es aus mir heraus.

"Du hast mir das erzählt mit den blauen Flecken und dem Heroin, das seine Mutter nimmt und dass der Vater abgehauen ist. Seine Familie ist kaputt, seine Mutter süchtig, er lebt in armen Verhältnissen, er scheint nicht viele Freunde zu haben, er wird brutal misshandelt und niemand ist da um ihn zu stützen. Das sind mehr als genug Gründe für einen Menschen sich das Leben zu nehmen."

"Die Kollegen von der Polizei haben die Mutter immer noch nicht gefunden?"

"Nein", antwortet Paula knapp ohne mich anzusehen.

Ein leises Seufzen entweicht mir und ich stehe langsam auf, wobei der Stuhl ein lautes Knarren von sich gibt. "Ich sollte ihn anrufen. Frank Frei, meine ich."

"Willst du es ihm sagen? Das mit seinem Bruder? "

"Ich...ich...weiss es nicht. Wir müssten es ihm sagen, aber ich...Ich glaube nicht, dass er es verkraften würde..."

"Wir sagen es ihm also noch nicht?"

"Es...es fühlt sich falsch an es ihm nicht zu sagen, aber ich glaube wir sollten warten."

"Mmh...", ist das Einzige was ich von meiner Kollegin zu hören kriege.

"Ich rufe ihn jetzt an...", murmle ich und husche, peinlich berührt von der beschämenden Stille im Raum, hinaus auf den Flur. Mit zitternden Fingern wähle ich die Nummer, während ich durch die langen weissen Gänge hinaus aus der Psychiatrie eile. Es klingelt am anderen Ende der Leitung, während ich mich mit raschen Schritten vom Gebäude entferne und ein kühler feuchter Wind mir durch die Haare fährt.

"Ja? Leah hier", meldet sich eine warme Frauenstimme.

"Hier spricht Dr. Martinson, könnte ich bitte mit Herr Frei reden?"

"Sie können es auch gleich mir sagen. Ich bin seine Frau."

"Ich würde lieber gerne mit ihm persönlich reden..."

"Um was geht es denn?"

"Es tut mir leid, aber ich würde wirklich lieber zuerst mit ihm reden."

"Na gut! Aber nur für Sie!" Ich höre das Lachen der Frau durch das Telefon und abermals frage ich mich, wieso Andreas nicht ein solches Leben hat. Mit Liebe und Zuwendung. Er hätte es verdient.

"Hier Frank Frei. Um was geht es?" Eine ruhige Männerstimme, die müde klingt.

"Es geht um ihren Sohn, Herr Frei."

"Leon? Ist ihm etwas passiert?"

"Nein, Herr Frei, Andreas..."

Er fällt mir direkt ins Wort. Jetzt klingt seine Stimme kühl und beinahe wütend. "Sie müssen sich irren, ich habe keinen Sohn, der so heisst. Lassen Sie mich mit diesem Zeug in Ruhe! "

"Herr Frei, wenn Sie jetzt auflegen, wird Ihnen die Polizei einen Besuch abstatten. Also, kennen Sie Andreas nun?", erwidere ich ebenso kühl.

"Warten Sie schnell. Ich...ich muss schnell nach draussen, um in Ruhe zu telefonieren."

Er hatte es seiner Familie nicht erzählt, natürlich. Keine Überraschung. Er hatte Andreas ausgeblendet. Bis jetzt.

"Weshalb rufen Sie mich an? Ich bin nicht erziehungberechtigt, ich habe eine Familie, verstehen Sie? Sie können mich nicht einfach so anrufen!"

"Genau, Sie haben eine Familie, weshalb kümmern Sie sich dann nicht um Andreas? Ist er nicht Familie?"

"Nein. Ich kenne ihn kaum, ich habe ein neues Leben. Eine Frau und zwei wunderbare Kinder. Ich habe damit abgeschlossen."

"Seine Mutter ist verschwunden, wussten Sie das? Andreas wurde körperlich schwer misshandelt und hat in den letzten Tagen mehrfach versucht Suizid zu begehen, aber das haben Sie ja nicht mitbekommen."

"Nein, das wusste ich nicht. Ist er in einer Klinik?"

"Ja, in der geschlossenen Psychiatrie. Würden Sie ihn besuchen?"

"Ich? Nein, nein. Er kennt mich schon gar nicht mehr und ich bin fertig, verstehen sie endlich! Ich habe Emilie, -sie liebt reiten und ist wahnsinnig begabt in Klavierspielen und ich habe Leon, der die besten Noten seiner Klasse hat und Arzt werden will. Ich habe schon Familie."

"Sie lassen ihn also alleine. Sie lassen ihren unglaublich intelligenten, ehrlichen und tapferen Sohn alleine."

"Wünschen Sie ihm gute Besserung."

SchattenfallWo Geschichten leben. Entdecke jetzt