Kapitel 3. Ein letzter Zug

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Es vergehen Stunden, bis ich wage mich wieder zu regen. Immer noch kann ich mir nicht sicher sein, ob sie nicht vielleicht genau jetzt wieder nach mir suchen. Aber wenn ich hier bleibe, wird es nicht mehr allzu lange dauern, bis jemand in die Waschküche kommen und mich findet. Ein stechender Schmerz fährt durch meine Brust, als ich mich langsam wieder aufrichte, doch in der Dunkelheit kann ich die blauen Flecken ohnehin nicht erkennen. Ich schleiche schweigend zur Tür und drehe vorsichtig den Knauf um. Mit einem leisen Klicken öffnet sie sich und ich husche hinaus in die Nacht.

Die Kälte umfasst mich, wie eine neblige Wolke und beinahe bin ich froh die Jacke des Polizisten noch anzuhaben. Im Dunkel wird mich sowieso niemand erkennen und solange kein Licht drauf fällt, wäre die dunkelblaue Uniformsjacke eine ganz gute Tarnung.

Ich habe genug Zeit gehabt, um mir alles zu überlegen. Nun ist der Plan fertig. Durch den eisigen Nieselregen renne ich so schnell ich kann nach Hause, durch die Strassen, von denen ich geglaubt habe, sie nie mehr sehen zu müssen. Mama wird nicht zuhause sein. Sie wird irgendwo mit ihren falschen Freunden rumhängen, Schnee verticken und sich besinnungslos trinken, nur um sich selbst zu vergessen.

Und Tom. Wenn Tom da ist, dann werden meine Suizidabsichten sowieso unnötig sein. Dann wird es wohl eher Mord.

Das würde es vielleicht einfacher machen.

Doch niemand ist da, als ich mit dem Schlüssel unter der Türmatte, in die Wohnung gelange. Nun werde ich es wohl trotzdem selber tun müssen.

Ich habe versucht rational zu überlegen, doch schon bald ist mir klar geworden, dass manche Dinge bei mir nicht funktionieren würden. Ich war einfach zu feige dazu. Der Überlebensinstinkt würde dabei Überhand nehmen. Klingen und Schlafmittel hatten wir keine. Die Brücke würden sie überwachen.

Schlussendlich blieb mir also nur das Heroin. Ein Päckchen zusammen mit Alkohol würde wohl reichen.

Ich greife in die Teedose, in die Mama es voller Zuversicht, dass es nie jemand finden würde, gelegt hat, ein durchsichtiges Päckchen heraus, bis zu einer säuberlichen Markierung gefüllt mit makellosem weissem Pulver. Schnee.

Es wird Mama viel Geld kosten, das Geld einer ganzen Woche. Ich weiss nicht, wie ich das je wieder gut machen soll. Beinahe will ich lachen. Sogar zum Sterben nehme ich ihr etwas, das sie braucht.

Mit einem Hauch von Verzweiflung durchsuche ich die Jacke des Polizisten und stosse dabei auf seinen Ausweis. Robin Sturm, steht unter dem etwas verzerrten Foto eines jungen Mannes mit blauen Augen. Ich seufze leise, als ich das Geld aus der Jackentasche ziehe. Für Mama, denke ich mit einem sarkastischen Lachen und lege die vierzig Euro an den Ort, wo das Kokain versteckt war.

Diebstahl schmerzt.

Den Zettel aus Papier hefte ich mit einer Stecknadel an. Entschuldigung, steht in zittrigen Buchstaben drauf.

Ich ziehe den dunklen Kapuzenpullover über und verpacke das Heroin und die mit 70-prozentigem Whiskey gefüllte Flasche sorgfältig in einen alten Plastiksack. Noch ein weiterer Zettel.

Ich liebe dich.

Es klingt falsch, unecht und wie eine lächerliche Lüge und ich zerknülle ich wortlos. Sie würde sich wünschen, dass ich einfach verschwinden würde, ohne ein Wort. Ein letztes Wort.

Als ich wieder in die tiefe Nacht hineintrete schleudert ein heftiger Wind mir die Regentropfen ins Gesicht. Der Weg zum Polizeiposten ist kurz. Bald stehe ich hinter den Büschen vor dem trostlosen Betonklotz und überlege mir, wo die Überwachungskameras stehen könnten. Eine mit Blick auf den Parkplatz, eine auf die glänzende Glastür, gegen innen gerichtet und eine auf der Rückseite. Das heisst, es wird einen toten Winkel rechts neben der Tür geben. Leise husche ich geduckt hinter den Autos hindurch, bis zur Tür und lege genau unterhalb der Kamera, die Jacke auf die Stufen.

Ich würde noch einmal in die Schule zurückkehren, nur um sicherzugehen, dass es nichts mehr gab, wofür ich noch leben sollte. Vielleicht würde mich ja jemand ansprechen. Mich fragen wo ich gestern gewesen sei. Ob es mir gut gehe. Ob ich Hilfe brauchen würde.

Werden sie nicht. Aber diesen letzten Zug brauche ich noch, um auch die letzte Hoffnung abzutöten und endlich nicht mehr am Leben zu hängen.

Vorsichtig schleiche ich wieder aus dem Areal der Polizei durch die Büsche nach draussen, als ein Ruf hinter mir mich erstarren lässt.

"Junge, drehst du dich bitte mal um?"

Ich tue so, als ob ich ihn nicht gehört hätte und stolpere weiter durch das Gestrüpp, doch nun höre ich schnelle Schritte hinter mir. Wenige Sekunden später packt mich jemand hart am Arm und ich werde umgedreht.

Ich schaffe es noch den durchsichtigen Plastiksack in die Äste neben mir zu schieben und hoffe verzweifelt, dass niemand meine Bewegung gesehen hat.

Ein Polizist, den ich noch nie gesehen habe steht vor mir und hält mich fest an der Schulter gepackt. So fest, dass es schmerzt.

"Was tust du hier?"

"Ich habe etwas zurückgebracht.", antworte ich knapp und nicke Richtung Polizeipräsidium.

"Was?"

"Eine Jacke. Bitte lassen Sie meinen Arm los, Sie tuen mir weh."

Tatsächlich lockert er den Griff und ich kann mich von seinen Fingern losmachen.

"Weshalb bringst du um eins in der Nacht eine Jacke ins Polizeipräsidium zurück?", fragt er mit Schärfe in der Stimme.

"Weil ich es morgen nicht mehr kann", antworte ich ruhig, packe im selben Moment den Plastiksack und renne los. Ich komme nicht weit, nur bis zur nächsten Hausecke, dann gibt meine Lunge auf und ich muss mich keuchend gegen die unverputzte Wand lehnen. Doch der Polizist folgt mir nicht, er scheint es unwichtig zu finden, mitten in der Nacht, einem schmächtigen Sechzehnjährigen nachzuhetzen.

Erschöpft komme ich an den Platz, an dem ich mich schon mehrmals verkrochen habe, wenn Tom zuhause war oder mich meine Klassenkameraden suchten. Die alte Sackgasse mit den Müllsäcken ist das perfekte Versteck, denn niemand hat Lust hier hineinzutreten. Müde dränge ich mich zwischen zwei der Abfallsäcke, damit die eisige Kälte ein wenig von mir ablässt und rieche den muffigen Gestank von alten Kleiderfetzen, Resten und verbrannten Dingen.

Morgen würde ich nicht mehr hier sein. Morgen würde ich endlich verschwinden können, ohne zu befürchten, eine Chance verpasst zu haben.




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