Kapitel 37. Vielleicht vielleicht

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Falc betrachtet mich bestürzt. So bestürzt wie jemand einen nur anschauen kann, wenn er nicht weiss, was er tun soll.

"Es tut mir leid, ich weiss nicht wie", sagt er leise, ohne den Blick zu senken. Aus dem Augenwinkel erkenne ich, wie er den roten Alarmknopf über mir drückt.

Mir schiessen vor Schmerzen und Verzweiflung Tränen in die Augen. Es ist mir egal, dass er mich weinen sieht, ich habe ohnehin keine Ehre und keinen Stolz mehr zu verlieren.  

"Warum...?", frage ich müde und schiele zu seiner ausgestreckten Hand. Etwas piepst laut und schrill. 

"Du hast Schmerzen, vielleicht können sie dir etwas dagegen geben", meint er kaum hörbar, nur eine Sekunde, bevor die Türe auffliegt und mehrere Pflegekräfte hineinstürmen.

"Was ist los?", fragt eine der älteren Frauen im dunkelblauen Kasack ausser Atem und wirft mir einen beunruhigten Blick zu.

"Er hat starke Schmerzen...", beginnt der Polizist und erhebt sich von seinem Stuhl, um ihr Platz zu machen. Das grelle Piepsen verstummt.

Sie rutscht neben mich und mustert mich mit nachdenklich. Dann hält sie mir einen kleinen Pappestreifen vor die Nase. 

"Von eins bis zehn – wo würdest du deine Schmerzen einordnen?", sagt sie knapp und deutet auf  den jeweiligen Strich auf der zerdrückten Pappe. Als ob ich schwer von Begriff wäre.

Erschöpft starre ich zurück. Ich hasse es zu schätzen. Oder "einzuordnen".  Schmerzen sind etwas subjektives, ich habe keinen Referenzrahmen, nichts. Schmerzen vergisst man sobald man sie nicht mehr hat und es bleibt nur noch ein nagendes verabscheuenswertes Gefühl im Körper zurück. 

Es ist entweder übertreiben oder untertreiben, es gibt nichts dazwischen. Für die grausträhnige Frau mit violett-lackierten Fingernägeln ist mein Schmerz nicht derselbe. Mein Schmerz kann für sie gar nicht existieren. Gott, ich denke zu viel.

"Fünf", murmle ich. Vielleicht ist es übertrieben. Hauptsache es hört auf.

"Ich kann Ihnen keine Schmerzmittel mehr geben, aber ich werde Ihnen einen Eisbeutel bringen, ja?"

Hat sie mich früher nicht geduzt? Und Eisbeutel...Eisbeutel? Seit wann weine ich?

Das Zimmer leert sich allmählich wieder, bis schlussendlich nur Falc zurückbleibt. Sein Blick ruht auf mir, nicht mehr so hilflos wie zuvor, sondern bestimmter. 

"Schaffst du es, mir für einen Moment zuzuhören, Andreas?", sagt er mit ruhiger Stimme und sinkt neben mir auf den Stuhl.

Ich nicke matt, während mir weiter salzige Tränen über die Wangen laufen. Ich bin selbst genervt  von mir. Falc muss es hassen für mich zuständig zu sein.

"Erstens. Du redest mit deinem Anwalt. Dafür lasse ich Nick hier hinein, okay?"

"Ich glaube nicht, dass Nick mit mir reden will."

Falc seufzt und schüttelt seine dunklen Locken.

"Nick", beginnt er und holt demonstrativ tief Luft. "Nick...steht seit ich hier angekommen bin vor dieser Tür."

Überrascht hebe ich den Blick. Der Mundwinkel des Polizisten hebt sich ein kleines Bisschen.

"Du bist wahrlich kein Optimist. Warum sollte er plötzlich nichts mehr mit dir zutun haben wollen?"

Ich zucke mit den Schultern. Vielleicht weil alle vor ihm es getan haben? Papa, Mama, all meine Kindheitsfreunde, der Polizist, der mich aus dem Wasser gezerrt hat, ist auch nicht mehr da. Aaron ebenfalls. Er ist gegangen. Das tun sie alle früher oder später.

"Ich bin ein Realist", murmle ich mit einem spöttischen Lächeln. Die Tränen trocknen auf meinem Kinn. 

"Punkt zwei", fährt Falc nach einer Sekunde Stille fort.

"Iss wieder, trink. Geh auf die Toilette, geh duschen, auch wenn es nicht angenehm ist. Versuch den Chefarzt nicht gegen dich aufzubringen und bitte überdauere die Physio und die Gespräche mit der Psychiaterin nicht in völliger Apathie."

Falcs dunkle Augen mustern mich eindringlich. Ich wünsche mir, dass ich mir meine Hand abreissen könnte. Alles nur damit das aufhört.

"Das ist viel", antworte ich leise. 

"Ich weiss. Aber das ist deine einzige Chance. Du musst kooperativ sein sonst..."

"Sonst was? Ich komme entweder in Untersuchungshaft oder in die Psychiatrie, dann werde ich verurteilt. Ende, Schluss, fertig", unterbreche ich ihn spöttisch.

"Nein, hör mir zu. Wenn du in ein paar Monaten vor dem Richter stehst, in dem Zustand in dem du im Moment bist, bist du genau das was sie erwarten. Du bist ein psychisch angeschlagener Jugendlicher, der von seiner drogenabhängigen Mutter misshandelt und vernachlässigt wurde. Der sich dafür gerächt hat, im Affekt, aus Wut, aus Verzweiflung."

Seine dunklen Augen bohren sich in meine.

"Verstehst du? Du hättest praktisch keine Chance."

Er atmet leise aus.

"Du kannst eine Chance haben."

Ich muss lächeln. Es ist nett, dass er versucht mir zu helfen, aber es spielt keine Rolle mehr. Ich will nicht mehr leben und ich habe nicht vor mit dem Sterben bis zum Gefängnis zu warten.

 Falc lehnt sich vor, sodass er nur noch wenige Zentimeter von mir entfernt ist.

"Woran denkst du?", fragt er mit beunruhigter Stimme.

"Ich nehme das erste an. Ich werde mit dem Anwalt reden", antworte ich tonlos.

Der braunhaarige junge Mann nickt ohne den Blick von mir zu nehmen.

"Was ist mit dem zweiten?"

"Das zweite ist kein Handel."

Er seufzt.

"Was wäre für dich ein gerechter Handel?"

Ich zucke mit den Schultern. Mein Kopf schmerzt vor Anstrengung.

"Überleg es dir, ja?"

Er steht auf und schiebt mit einer behandschuhten Hand den Stuhl zurück. Weisse Latexhandschuhe, als ob ich ansteckend wäre. Mit einem Finger deutet er auf die schlichte plastiküberzogene Uhr.

"Du wirst gleich zum Röntgen gebracht. Wir reden später."

Der Kommissar wartet nicht auf meine Antwort, stattdessen verlässt er das Zimmer ohne ein weiteres Wort. Frustriert höre ich zu, wie die Tür hinter laut hinter ihm zufällt.

Vielleicht sollte ich den Handel, der keiner ist, trotzdem annehmen. Ich will nicht als ihr Mörder in den Schlagzeilen stehen, ich will meinem Erzeuger nicht die Genugtuung geben, mich als psychisch gestörten Verbrecher bezeichnen zu können.

Sterben wäre einfacher. Weniger Schmerzen, weniger Angst. 

Aber ich habe wohl kein Talent im Sterben. Und keine Hand frei.

Vielleicht lasse ich mich darauf ein. Nur so lange, bis ich eine Möglichkeit sehe.

Erschöpft schliesse ich die Augen. Schmerzmittel, Eisbeutel, Tod, was auch immer, ich sehne mich danach, dass dieser Schmerz endlich aufhört.

Aber stattdessen kommt ein übellauniger breiter Mann in dunkelblauen Klamotten und schiebt mein Bett grob aus dem Raum. Die Armlehne knallt gegen den Türrahmen und ich wünsche mir einmal mehr die behagliche Bewusstlosigkeit zurück, als der Schmerz wie einen Peitschenhieb durch mich hindurchfährt.  



Irgendwie bin ich nicht wirklich zufrieden mit diesem Kapitel...aber nächstes Mal geht es erst einmal wieder mit der anderen Geschichte weiter!

Vielen Dank für all eure Kommentare und Votes!







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