Kapitel 79. Müde

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Die Heizung gibt ein hohles Geräusch von sich, als Falc sich neben mich auf den Boden sinken lässt. Ich wünschte, ich könnte die Tür verriegeln, die Welt draussen ausschliessen. Aber in dieser Wohnung gibt es weder Schlüssel noch Privatsphäre, nur das muffige Dunkel eines Zimmers, in dem ich die Jalousien am Morgen nicht hochgezogen habe.

"Hey", sagt der Kommissar sachte, als ich ihn nach langen Minuten noch immer keines Blickes würdige, das Gesicht in meinen Armen verborgen. "Tres", wiederholt er leise.

"Bitte lass mich", sage ich, die Lippen kleben schmerzhaft aneinander, wie mit zähem Leim versiegelt. 

"Hier, trink was", erwidert Falc unbeirrt. Es klickt, zwischen meinen Knien erkenne ich, dass er ein Glas vor mich hingestellt hat. Die Flüssigkeit ist trübe, sie schwappt hin und her wie ein Pendel. 

"Lass mich", wiederhole ich knapp. Mit ihm zu reden ist gerade unerträglich, mit allen zu reden. Erinnert mich an das, was kommen wird, an Gerichtsprozesse und Gefängnis, und stürzt mich in eine beissende Verzweiflung, die ich kaum auszuhalten mag.

"Tres, schau mich mal an", meint er ruhig. Seine Hand liegt auf meiner Schulter, ich zucke absichtlich zusammen, um sie loszuwerden. 

"Es tut mir leid", sagt er nach einer kurzen Pause. "Ich habe nicht damit gerechnet, dass so etwas passieren könnte."

"Ich weiss. Bitte lass mich einfach in Ruhe."

"Ich lass dich gleich in Ruhe. Ich will nur kurz mit dir reden."

"Ich bin zu müde", murmle ich in den dicken Stoff meiner Winterjacke. Mir ist furchtbar heiss und furchtbar kalt zugleich. Falc legt erneut eine Hand auf meine Schulter, streicht beruhigend über meinen Rücken. Ich hasse ihn dafür. Hasse sie alle. An erster Stelle mich selbst.

"Tres", sagt er sachte. "Du musst etwas trinken."

"Nein", entgegne ich matt. Es widert mich an. Widert mich an, wie mein eigener stickiger Atem.

"Ich gehe erst, wenn das Glas leer ist."

Ich hebe den Kopf. Mein Nacken lässt mich schmerzlich wissen, dass ich zu lange in dieser Position verharrt habe. Widerstandslos nehme ich das Glas an, das er mir entgegenstreckt. Orangensaft, stelle ich matt fest, er schmeckt wie frisch gepresst.

Falc nutzt den Moment, um sachte eine Hand auf meine Stirn zu legen. Brauche kein Arzt zu sein, um zu wissen, welche unserer Körpertemperaturen die physiologisch sinnvolle ist. 

"Komm zieh die Jacke aus, du verglühst fast."

Ich tue, was er sagt. Falcs dunkle Augen blitzen in der Dunkelheit, als sich unsere Blicke treffen.

"Ich weiss, du hast Angst", sagt er leise. "Aber diese Anklage, so unerwartet sie auch kommt, steht auf wackligen Beinen. Es wird schwer, damit einen Schuldspruch zu fassen."

"Du versprichst immer so viel", meine ich knapp. "Aber es stimmt nie."

Der Polizist sagt eine Weile nichts. 

"Ich weiss nicht", meint er schliesslich. "Ich rede immer von Szenarien, von dem, das am wahrscheinlichsten ist. Und jetzt ist das Szenario eingetreten, das weniger wahrscheinlich war."

"Hm", murmle ich erschöpft, lasse den Kopf zurück auf die Knie sinken. "Ich bin so müde."

Der Boden quietscht, als Falc auf die Füsse kommt. Die Jalousien rasseln, als das Tageslicht blendend das stickige Zimmer flutet. "Komm", sagt er sachte, als er sich unter dem geöffneten Fenster auf den Boden sinken lässt. "Ich weiss, das ist ein harter Rückschlag und du bist erschöpft. Aber jetzt ist nicht der richtige Moment, um aufzugeben."

"Schon klar", erwidere ich matt. Aufgeben ist nicht. Aber Gott bin ich müde.

"Tres", meint er aufmunternd. "Versuch nicht zu sehr daran zu denken. Du kannst nichts daran ändern, fokussier dich lieber auf deine Abiprüfungen, der Rest liegt ohnehin nicht in deiner Verantwortung."

"Ja", antworte ich ergeben, wische mir das verknotete Haar aus dem Gesicht, als ich mich aufrichte, fasse nach dem schweren Mathematikbuch auf meinem Schreibtisch. Es rutscht mir aus der Hand und trifft mit einem lauten Knall am Boden auf. 

Falc betrachtet mich besorgt aus dunklen Augen. 

"Mach heute Pause", sagt er schliesslich, es klingt wie ein Befehl. "Du solltest dich ausruhen."

"Ich muss mich ablenken", bemerke ich trocken, ziehe das Lehrbuch in meinen Schoss. Die Seiten kleben an meinen Fingerkuppen wie verschwitzter Stoff an einem heissen Sommertag. Eine Mauer aus Integralen, geschwungenen Bögen mit Dach und Boden aus Zahlen, die meinen Geist in zwei teilen. 

"Nicht damit", erwidert der Kommissar unbeirrt. "Lass uns einen Spaziergang machen. Du brauchst frische Luft."

"Ich will nicht", murmle ich, fühle mich dabei wie ein trotziges Kleinkind. Falc verzieht den Mund zu einem mitleidigen Lächeln.

"Ich dulde keinen Widerspruch, das solltest du mittlerweile wissen, Tres", meint er belustigt und nimmt mir das Lehrbuch aus der Hand. "Komm, wir holen uns was zu Mittag, mir wurde gesagt, du hättest heute noch nichts gegessen."

"Ich hab grad wirklich keinen Appetit."

"Mach dich frisch", meint er bloss und fegt mir mit einer Hand das strähnige Haar aus der Stirn. "Einverstanden, wenn wir deinen Freund unterwegs aufsammeln?"

"Nein!", unterbreche ich ihn energisch. "Ich will Nick nicht sehen."

Falc sieht mich an. Er sieht mich an, als hätte er genau gewusst, was ich ihm antworten würde. 

"Mach das nicht schon wieder", sagt er scharf. "Du kannst ihn nicht von dir fernhalten, sobald es dir schlecht geht. So funktionieren Beziehungen nicht."

"Bist du jetzt Beziehungsexperte?", erwidere ich genervt und ziehe mich am Schreibtisch in die Höhe. Ich schwanke, Rache dafür, dass ich Stunden hier gesessen habe, die schwarzen Flecken tanzen vor meinen Augen. "Ah sag mal, – wie läuft's mit Aaron? Hast du's mit deiner tollen Beziehungslogik geschafft, ihn zu überreden, bei dir zu bleiben?"

Falc mustert mich seelenruhig vom Boden aus, nur ein winziges, irritiertes Flackern in seinen Augen verrät, dass mein Spott angekommen ist. 

"Tres", meint er gelassen. "Siehst du nicht, dass du und Aaron euch ähnelt, was das angeht?"

"Ich bin nicht Aaron. Übertrag deine Beziehungskrisen nicht auf mich."

Der Kommissar lächelt matt.

"Gut. Du hast ein gutes Gespür für Menschen. Sag mir, was denkst du, würde Aaron in dieser Situation machen?"

"Lass mich in Ruhe", erwidere ich knapp und greife nach dem dunkelblauen Handtuch, das zerknittert und immer noch nicht trocken von meinem Bürostuhl hängt. Falc zieht in weiser Voraussicht das Glas aus dem Weg, als ich mit grossen Schritten an ihm vorbeieile. 

"Hey", bemerkt er, als ich die kalte Türklinke nach unten drücke. Aus dem Flur dringen kurze Gesprächsfetzen ins Zimmer, hin und her, hin und her zwischen zwei leisen Stimmen. Falcs dunkle Augen begegnen meinen.

"Shampoo nicht vergessen", sagt er lächelnd. 



I'm back. Prüfungsphase aus der Hölle knapp überlebt :,)

- Was haltet ihr eigentlich von Falcs Umgang mit Tres? 

Bald geht's weiter mit dem andern Buch :)

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