Kapitel 69. Montag

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Die Rechnung an der Tafel wächst. Links oben in der Ecke zeichnet meine Lehrerin ein zerquetschtes Rotationsvolumen dazu, so klein, dass ich die Augen zusammenkneifen muss, um den winzigen blauen Kreidepfeil sehen zu können, der die Richtung angibt. Es hilft nicht, dass das Ding aussieht wie eine zertretene Birne. Mit einem Seufzen ergänze ich meine Notizen damit. Optimistisch gesehen, verstehe ich etwa fünfzig Prozent davon, vielleicht sogar fünfundfünfzig. 

Die nächste kryptische Linie aus Integralen und Buchstaben macht gar keinen Sinn mehr, mein Lösungsweg ist absoluter Dreck. Dabei bin ich gut in Mathe, dachte ich immer. Wenn ich Mathe nicht verstehe, kann ich den Rest eigentlich gleich aufgeben. Vielleicht sind es nur die Medikamente oder mein durchgeschütteltes Hirn, versuche ich mir einzureden. Oder der Schlafmangel und die Albträume oder die Tatsache, dass ich ewig nicht mehr in Mathe war. Trotzdem, jetzt schon nichts mehr zu verstehen, ist kein gutes Omen. Überhaupt kein gutes Omen. Entnervt zeichne ich mit dem Kugelschreiber die blassen OP-Narben auf meinem Handgelenk nach, sie ragen mitten in das vernarbte Gewebe auf meiner Arminnenseite. Danny hat mir irgendein seltsames Narbengel dafür gekauft, dass ich nachts mit Klarsichtfolie draufkleben muss, es sieht krank aus. Meine Lehrerin malt ein kleines Viereck an das schräge Ende des Beweises, mein Kästchen wird schief wie ein platt gedrückter Tetrapack. Ich radiere es wieder aus, aber das Nächste wird genauso hässlich. Schliesslich begnüge ich mich damit, q.e.d. dahinter zu schreiben. Quod erat demonstrandum, was zu beweisen war, aber wegen meiner mathematischen Unfähigkeit leider nicht bewiesen werden konnte. 

Erleichtert lasse ich den Stift sinken, als der durchdringende Klingelton endlich die Pause ankündigt. Es ist erstaunlich anstrengend, die ganze Zeit diesen elenden Stift zu halten, meine mehr oder weniger ausgeheilte Hand hat immer noch die Ausdauer eines nassen Lappens. Erschöpft lasse ich mich in meinem Stuhl zurücksinken und beobachte, wie meine Mitschüler sich im Raum verteilen, sich aufs Fensterbrett setzen und hinaus in den Flur verschwinden. Eigentlich würde ich gerne ein Fenster öffnen, aber draussen ist es kalt und wahrscheinlich weiss das gesamte Kollegium von meinen früheren Suizidversuchen. Ich bringe mich stattdessen dazu, aufzustehen und mit zittrigen Beinen zum Lehrerpult rüberzugehen. Meine Mathelehrerin sieht auf, als ich mich mit einer Hand auf ihrem Tisch abstützen muss, um nicht über das Kabel des Projektors zu stolpern.

"Ähm...ich...", beginne ich zögerlich, als ihre grauen Augen mich neugierig mustern. "Entschuldige, ich verstehe den Lösungsweg nicht ganz..."

"Mhm", sagt sie bloss und greift nach meinem Matheheft. "Zeig mal her."

Ich lehne mich gegen die Wand, während sie mit ausgestrecktem Zeigefinger meinem durchgestrichenen Lösungsansatz folgt. Am liebsten würde ich darin verschwinden, ich muss nicht aufsehen, um zu wissen, dass sie mich alle ansehen. 

"Okay, das ist nicht schlecht, ich glaube, das Problem liegt in der zweiten Funktion", beginnt sie und deutet auf eine fett durchgestrichene Zeile. "Schau's dir noch mal an, wenn's nicht klappt, kommst du einfach wieder."

"Danke", murmle ich verlegen und nehme mein Heft wieder entgegen, ohne auch nur annähernd mehr Ahnung zu haben. Sie sieht immer noch zu mir rüber, als ich mich wieder an meinen Platz setze und die Aufgabe vor mir ausbreite. Die zweite Funktion ist ziemlich hässlich, ich habe ihre Umformung bestimmt schon dreimal überprüft. Und trotzdem den offensichtlichen Fehler übersehen. Genervt umkreise ich ihn rot und klappe das Heft zu.

"Gefunden?", fragt mich meine Mathelehrerin mit einem Lächeln. "Ja, danke", murmle ich, beschämt, dass ich überhaupt eine dermassen dumme Frage gestellt habe. Das Klassenzimmer ist mittlerweile gähnend leer und erst jetzt stelle ich fest, dass schon zehn Uhr ist, Zwanzigminutenpause.

"Geh doch noch ein wenig raus an die frische Luft", bemerkt meine Lehrerin, als sie an mir vorbeigeht, um die Fenster zu öffnen. Draussen ist der Himmel tiefgrau, aber ausnahmsweise regnet es nicht. Ich bleibe noch einen Moment sitzen, als sie das Zimmer verlässt. Eigentlich habe ich keine Lust rauszugehen, über den Flur mit den vielen Menschen und ihren Blicken, aber noch weniger Lust habe ich, einsam im Klassenzimmer zu sitzen, wenn alle zurückkommen. Ausserdem mag ich die frische Luft. Im Krankenhaus kriegt man sie nur spärlich, in meinem eigenen Zimmer auch, denn meinen Fensterschlüssel habe ich mir offensichtlich immer noch nicht verdient. 

Der Flur direkt vor der Tür ist ziemlich leer. Ich werfe trotz des Handy-Verbot-Schilds direkt gegenüber einen Blick auf meinen Bildschirm. Nick hat mir eine Komposition aus absolut sinnlosen Emojis geschickt, irgendeinen Hummer, dann eine Schachfigur, einen Donut und zum krönenden Abschluss dieser seltsame, südamerikanische Steinkopf. Ich hab nicht mal den Anflug einer Ahnung, was das bedeuten soll, aber ich kann mir ein Lächeln nicht verkneifen. 

"Auch keine Handys im Flur", reisst mich ein vorbeigehender Lehrer aus meinen Gedanken. Er bleibt nicht mal stehen, geht aber rückwärts, bis er sieht, dass ich mein Handy zurück in meine Tasche sinken lasse. Genervt ziehe ich es wieder raus, als er um die Ecke verschwindet und schicke Nick einen Fisch als Antwort, bevor ich in den Hauptflur abbiege. Hier ist alles voll von Menschen und Blicken. So voll, dass ich froh bin, wenigstens auf einer Seite meines Gesichts nichts sehen zu können. Erleichtert lehne ich mich im Innenhof gegen einen der kleinen, kahlen Bäume, die aussehen, als könnte jeder Wind sie umknicken wie Streichhölzer. Die Blicke sind immer noch da, sie verfolgen mich durch die bodentiefen Glasfenster rund um den Innenhof rum, aus der Ecke, wo ein paar Schüler zusammenstehen. Vielleicht bin ich auch einfach paranoid. Ziemlich wahrscheinlich sogar. Trotzdem bemerke ich Gloria erst, als sie direkt vor mir steht und mich erschrocken zusammenfahren lässt. 

"Komm mit rüber", sagt sie knapp und deutet auf die Gruppe in der Ecke. Ich schüttle konsterniert den Kopf.

"Nein, ich komm schon klar."

Gloria schnaubt genervt. 

"Das ist echt traurig."

"Ah ja", murmle ich unbeeindruckt und lehne mich enger an den kleinen Baum. Gloria seufzt und hebt den Kopf, bis ihr beinahe ihre übergrosse Kapuze vom Kopf rutscht. 

"Komm schon. Ich seh' wie ne Bitch aus, wenn ich dich so erbärmlich rumstehen lasse."

"Dannys Idee, nicht wahr?"

Gloria schüttelt resigniert den Kopf und sieht wieder zu ihren Freunden rüber.

"Nein...also, ja, doch, hat er mir gesagt, aber..."

Sie unterbricht sich und blickt kurz zu Boden, wo im zertretenen Gras ein kleines, schiefes Schneeglöckchen wächst, direkt neben heimlich gerauchten Zigarettenstummeln und altem Kaugummipapier.

"Komm einfach rüber, ja? Wir haben Kekse."


Entschuldigt, dass ich zwei Wochen lang von der Erdoberfläche verschluckt war, – mein Studium ist gerade ziemlich anstrengend und dazu hatte ich eine hartnäckige Schreibblockade :,) 

Aber diese Woche schaffe ich hier noch mal ein Kapitel und nächste Woche geht es endlich im anderen Buch mit Luis weiter :))


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