Kapitel 52. Kinder wie du und ich

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Worte kann man ausblenden, in die inaktivsten Neurone seines Grosshirns verbannen, wo sie nur ab und an ihr hässliches Gesicht an die Oberfläche heben. Wo sie allmählich in alles hineinsickern, was mit ihnen in Kontakt kommt und sich wie ein unbemerktes Virus im Kopf ausbreiten. Einfach still sein, deine verfickte Klappe halten, weil du Schwuchtel ja eh nichts dagegen tun kannst. Wenn du Glück hast, blutest du nachher ausnahmsweise nicht aus der Nase.

Aber dass Nicks Strategie nicht Ignorieren ist, merke ich schnell, als er seine Lippen von meinen trennt, nur um mein Ohr sanft an seinen Hals zu drücken und das andere mit einer Hand zu bedecken. Das Rattern des Aufzugs wird zu dumpfem Rauschen, das mit meinem überlauten Herzschlag verschmilzt.

Er hält mir die Ohren zu wie einem kleinen Kind. Als ob es dafür nicht schon lange zu spät ist. Die bösen Worte sind schon lange drin, allesamt, hocken in meinen Gehirnwindungen wie hartnäckige Dämonen.

"Bitte mach das nicht", sage ich leise an Nick gewandt und ziehe seine Hand weg, um mich wieder aufrichten zu können. Der Mann gegenüber mustert mich und die Blumen in meiner Hand, dann schnaubt er verächtlich. Ich kann mir gut vorstellen, was er nur zu gerne aussprechen würde. Tunten, Schwanzlutscher, Arschficker, Scheissschwuchteln, violett angelaufene Rippen und blaugeschlagene Augen.

Nick sieht mich besorgt an, die blonden Haare noch vom Kuss zerzaust. Ich bringe ein mattes Lächeln zustande, um ihn zu beruhigen. Ihn und mich. Keine Angst. Der Mann mit dem geschmacklosen, blauroten Karohemd ist nicht Tom, wird nicht zuschlagen, tötet keine Mütter in runtergekommenen Wohnungen. Doch als ich den Kopf nochmals hebe, sehe ich Tom. Als ich die Augen zusammenkneife und sie wieder öffne, sehe ich Tom. Immer wieder Tom.

Nick gibt einen erschrockenen Laut von sich, als ich ihn ruckartig mit mir ziehe, kaum dass sich die schweren Aufzugstüren einen Spalt geöffnet haben. Für einen Moment erkenne ich aus dem Augenwinkel Falc, der überrascht von seinem Handy aufschaut, dann werde ich abrupt an der Schulter zurückgezogen. Die Panik kommt zuverlässig wie eh und je, ich spüre, wie sie nach der Kontrolle über meinen Körper greift, wie ein abgesetzter, herrschsüchtiger Monarch. Doch dieses Mal ist die Vernunft schneller, Revolution verhindert, die Demokratie meiner Gedanken bleibt. Nicht Tom oder der Mann im Karohemd haben mich zurückgerissen, sondern Nick, der mitten im Türrahmen des Aufzugs angehalten hat. Mit einem verschwörerischen Schimmern in den dunkelbraunen Augen, das so gar nicht in mein schreckgelähmtes Gehirn passt, lächelt er und zieht mich noch ein Stück näher.

"Lust auf eine kleine Darbietung?", raunt er, mit einem verschmitzten Seitenblick in den Fahrstuhl.

Verwirrt sehe ich ihn an, eine Hand bereits wie von selbst an seinem Haaransatz, die andere fest um den Blumenstrauss geschlossen.

"Wie...?"

Er lächelt fast schon kindisch und beugt sich einen Mikrometer weiter nach vorne, bis sich unsere Nasenspitzen berühren.

"Bitte küss mich."

Darum muss er nicht zweimal bitten. Allein das spitzbübische Funkeln in seinen braunen Augen reicht aus, um mich zu überzeugen. Meine Lippen finden die seinen, wandern über die kleinen Rauigkeiten bis hin zu seinen weichen Mundwinkeln. Erst als Nick einen Schritt zur Seite macht und mich mit sich zieht, löse ich mich allmählich von ihm. Schnell genug, um den erhobenen Mittelfinger zu registrieren, den er demonstrativ in Richtung Karohemd ausgestreckt hat.

Falc beobachtet das Ganze irritiert, sprachlos für die Minute. Erst als er meinem Blick begegnet, scheint er aus seiner Starre zu erwachen und macht einen raschen Schritt nach vorne.

"Nick", sagt er warnend und drückt im gleichen Moment die ausgestreckte Hand runter, in dem sich die Aufzugstüren mit einem Klicken schliessen und Toms Gesicht gemeinsam mit dem blauroten Hemd hinter Metall verschwindet.

"Was sollte das?", fragt er mit einem matten Kopfschütteln und greift nach meinem und Nicks Arm, um uns entschieden vom Aufzug wegzuführen. Der gelbe Plastiksack knistert unter meiner Haut, als er mich berührt.

"Er ist ein homophobes Arschloch", kommentiert der blonde Student seine Aktion gelassen, ohne jegliche Reue. Falc seufzt und fährt sich durchs dunkle Haar, lässt dabei endlich meine Hand los. 

"Heldenhaft. Aber halt deinen Mittelfinger besser im Zaum, dafür kannst du anzeigt werden."

Nick lächelt.

"Mein Vater ist Anwalt, schon vergessen?"

Ihr Geplänkel verschwindet im Chaos meiner Gedanken, wie Plastikperlen unter Kleiderschränken. Nur noch ein paar Schritte bis zur automatischen Tür, durch die man das Krankenhaus verlässt, unterschriebene Entlassungen in Falcs Hand, die jetzt zwischen den Kunstorchideen am Empfang liegen. Nur noch ein paar Schritte, vorbei an den kleinen weissen Tischen im Eingangsbereich, auf denen die Zeitungen vom Jugendlichen schreiben, der rücksichtslos seine Mutter erstach. Noch ein paar Schritte aus der Klinik, in der jedes Mitglied der Belegschaft über ihren mörderischen Problempatienten tuschelt. Weg von Toms Gesicht und Handschellen am Bettrand. 

"Ich will raus", unterbreche ich das Gespräch zwischen Falc und der Angestellten an der Rezeption jäh und drücke mich an Falc vorbei, entreisse Nick meine Hand. Raus, und ich laufe, bis sich die klirrend kalte Luft in meinen Haaren verbeisst und meine Füsse auf dem Kieselstein-gespickten Teer ins Schlittern kommen, bis sich der dunkelgraue Himmel über mir aufbaut wie eine übergrosse Warnung, dass ich wieder einen Fehler mache. Bis die Wolken anfangen, an mir vorbeizufliegen, immer schneller und schneller, bis mein Schuh auf einer glatten Stelle wegrutscht und ich hart auf dem Boden der Tatsachen ankomme. Orangene Farbtupfer auf schwarzem Teer.

"Falsche Richtung", bemerkt der Kommissar trocken, als er mich vom Boden hochzieht. Er hat mich in meinem kleinen Ausflug mühelos eingeholt, ohne jetzt auch nur einen Hauch von Anstrengung zu zeigen. Nick nicht ganz. Er stützt sich die Hände auf die Oberschenkel und atmet schwer, so blass im Gesicht wie ich mir einen Halbvampir vorstelle. 

Falc lässt mein unverletztes Handgelenk nicht los, als er meinem Blick folgt und Nick hinter sich entdeckt. Meinen heutigen Vertrauensbonus habe ich mir offenbar gründlich verspielt.

"Alles okay, Nick?", fragt er knapp und hakt mich bei sich unter, die gelbe Supermarkttüte noch immer in der anderen Hand, in der jetzt die Blumen stecken.

Nick lächelt ein wenig gequält.

"Alles okay. Nur unsportlich", sagt er ausser Atem und nickt mir grinsend zu. Sein Potential an guter Laune scheint trotz Beziehungsproblemen, homophoben Beschimpfungen, schlechtem Wetter und einem unfreiwilligen Sprint noch nicht ausgeschöpft zu sein.

Falc nickt mit einem angedeuteten Lächeln, das sofort wieder verblasst, als er sich wieder mir zuwendet und mich mit unübersehbarem Ärger in den Augen mustert. 

"Und jetzt zu dir, – ich habe volles Verständnis dafür, dass du endlich gehen willst, aber mein Gott, du musst das in den Griff kriegen, Andreas. Du bist kein unerzogenes Kind mehr. Ich kann dir nicht jedes Mal den Arsch retten, wenn du Scheisse baust und für so etwas wie vorhin kannst du dir mächtig Ärger einhandeln."


Sollte eigentlich als "Valentin-Special" gebrandmarkt werden, aber dafür war ich zu langsam. Ab jetzt wird man Andreas, Nick und Falc auch wirklich nicht mehr im Krankenhaus antreffen, ich verspreche es. 

Nächstes Mal, später diese Woche, geht es wieder im anderen Buch weiter! 

Ausserdem, was haltet ihr vom neuen Cover?

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