Kapitel 78. Post

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Meine Hände zittern. Es riecht nach Frühling, am blauen Himmel flattern Wolkenfetzen im Wind vorbei. Es hätte ein guter Tag werden können, vielleicht, hätte ich nicht den Briefträger im Treppenhaus getroffen. Das Wappen der Stadt zerreisst unter meinen Fingern, als ich den Umschlag hastig aufreisse, ohne stehen zu bleiben. Vorladung, steht in Grossbuchstaben auf dem einzelnen Blatt Papier. Mein Herz setzt einen Moment lang aus. Die Buchstaben verschwimmen vor meinen Augen. Beschuldigter steht da, nicht Zeuge. Beschuldigter und Totschlag.

Ich bleibe stehen, halte mich an einem der dünnen Jungbäume fest, die in den Abgas-verseuchten Strassen vor sich hinsiechen. Die schwarzverfärbte Rinde bröckelt unter meinen Fingern ab. Irgendwie hätte ich das kommen sehen müssen, denke ich fassungslos. Wahrscheinlich wäre ich weniger überrascht gewesen, wenn der Brief früher gekommen wäre, als ich noch im Krankenhaus lag, als die Handschellen noch da waren und alles. Jetzt, Monate später, fühlt es sich an, als würde mir jemand die Luftröhre abschnüren. Ich hab gar nicht mehr daran gedacht, dachte, dass sich das alles schon regelt, das die Polizei eh versteht, dass ich unschuldig bin, sie nur noch Beweise brauchen, um das zu untermauern. Das war ein Fehler, merke ich, als ich auf die kleinen schwarzen Buchstaben starre. Fataler Fehler.

Plötzlich fühlt sich alles völlig falsch an. Fühlt sich falsch an, dass ich grade auf dem Weg zur Schule bin, um mein Abi nachzuholen. Fühlt sich falsch an, dass ich grade Knutschflecken am Hals habe. Was kriegt man für Totschlag? Fünf, sechs Jahre?

Mein Atem ist zu laut und tief, aber die Luft kommt nirgendwo an. Elend lehne ich mich gegen die hölzerne Umzäunung des kahlen Bäumchens. Die Äste ragen brach und dunkel in den hellen Himmel, schwanken und drehen sich, als ich zu lange hinschaue. Ich sollte weitergehen, bin ohnehin schon zu spät dran und das tolle Überwachungsgerät in meinem Handy wird jeden Moment Alarm schlagen. Aber wozu gebe ich mir überhaupt die Mühe? Es ist ohnehin sinnlos. Wird eh kein Abi geben, keine Abschlussfeier in fünf Wochen. Es ist ernüchternd, grausam ernüchternd.

Hah, ich hätte es kommen sehen müssen, von Anfang an. Hab mir irgendwann eingebildet, dass Dinge besser werden können, ich hab's ihnen wirklich geglaubt, mir diese peinlichen Träume ausgedacht, mit Studium und Reisen und Nick.

"Fuck", murmle ich. Nick. Wische mir das frisch gewaschene Haar aus der Stirn. Wie kann ich Nick das antun? Wie kann ich, wie kann ich das je wieder gut machen? Gar nicht, ist mir schon klar. Ich war so endlos egoistisch, wollte ihn unbedingt so nah bei mir haben, obwohl ich wusste, dass das passieren kann.

Rastlos mache ich ein paar Schritte. Halb acht steht auf meinem Handy, als ich flüchtig draufblicke. Schule fängt jetzt an, aber was spielt das noch für ne Rolle.

Die Wolken treiben über den blauen Himmel, sie spiegeln sich im Wasser unter mir. Gibt hier sogar Möwen, denke ich, als ich die Ellbogen aufs stählerne Geländer stütze. Die gewaltigen Wassermassen verschieben sich still und träge, als ewiger grauer Strom, bis sie sich Hunderte Kilometer von hier in die Nordsee ergiessen. Ich war noch nie am Meer. Hah, ich war schon so lange nicht mehr schwimmen, dass ich mir sicher bin, nie mehr an die Oberfläche zu kommen, wenn ich erst mal den Boden unter den Füssen verliere.

Das Handy klingelt in meiner Jackentasche. Am Ufer stürzen die Möwen kreischend in die Tiefe, runter zu Brotkrümeln, die dort aufgeweicht im Wasser treiben und matschig gegen die Steine schlagen.

"Keine Schule?", fragt jemand hinter mir. Fühlt sich wie ein Déjà-vu an. J'ai déjà entendu exactement la même chose, schon mal auf ner Brücke gestanden, schon mal auf dunkle Uniformen geblickt, als ich mich umgedreht habe.

Aaron hebt die Mundwinkel, als unser Blick sich trifft. Ich hab ihn schon ewig nicht mehr so gekleidet gesehen, fällt mir unsinnigerweise als Erstes ein. Er sieht deutlich einschüchternder aus, wenn er Uniform trägt, vielleicht auch nur durch die Anwesenheit seiner zwei Kollegen, die breitbeinig und bewaffnet hinter ihm auf dem Fussgängerstreifen stehen.

SchattenfallWo Geschichten leben. Entdecke jetzt