Der Polizist fährt sich mit einer Hand durch die braunen Locken und wirft mir einen aufmunternden Blick zu, während ich aus dem Augenwinkel wahrnehme wie die Zimmertür hinter Paula und den beiden anderen Polizisten zuschwingt. Aaron steht an die Wand gelehnt, wenige Meter vom Bett entfernt und beobachtet, wie sein Kollege sich neben mir auf den Stuhl niederlässt. Da ist etwas in seinem Blick, das ich nicht komplett deuten kann. Er betrachtet den jungen Kriminalkommissar mit einer solchen Wärme und Hingabe, wie ich sie noch nie gesehen habe.
"Wie war deine Mutter so, Andreas?", fragt Falc dann plötzlich und ich schrecke aus meinen Gedanken auf. Er wirft mir aus seinen grauen Augen einen aufmunternden Blick zu und setzt seinen scharf gespitzten Bleistift auf den karierten Notizblock in seinem Schoss auf.
Ich betrachte kurz meine Hände. Dunkelrote Ränder unter meinen Fingernägeln, getrocknetes Blut. Mamas Blut.
"Andreas?"
"Es...war ziemlich abhängig davon, was sie genommen hat. Und wie der Tag war - manchmal war sie liebevoll...selten, aber das waren die schönen Tage. Und manchmal extrem wütend oder traurig. Das konnte von einer Sekunde auf die andere wechseln", murmle ich und betrachte wieder das getrocknete Blut an meinen Fingern.
"Hat sie sich um dich gekümmert?"
"Nicht...besonders. Aber ich habe nicht wirklich einen Vergleich...", meine ich trocken.
"Was für einen Vergleich?"
"Einen Vergleich dazu...wie andere Eltern mit ihren jugendlichen Kindern umgehen..."
Der Kriminalkommissar nickt langsam. "Aber hat sie manchmal gekocht oder für euch eingekauft?"
Ich halte kurz inne, versuche mich an eine Situation zu erinnern, in der sie mit Einkaufstüten im Flur stand oder in der winzigen Küche etwas auf dem unzuverlässigen Gasherd briet. Mir kommt nichts in den Sinn...aber das kann nicht sein. Sie muss irgendwann gekocht und eingekauft haben, ich kann bloss nicht sagen, wann sie damit aufgehört hat.
"Andreas?"
"Entschuldige...sie hat sicher mal gekocht oder eingekauft, aber...ich kann mich nicht mehr daran erinnern...", meine ich zögerlich und spüre, wie mir die Scham den Rücken hinaufkriecht. Ich kann mich nicht mehr an meine wunderbare Mutter erinnern. An die Mutter, die mich und Samu in die Schule brachte, mich auf die Stirn küsste, kitzelte und mit mir auf den Spielplatz ging. Ich habe nur noch filmartige Bilder im Kopf, wie von einem Aussenstehenden eingefangen. Und ich vermute, dass das alles nur Produkte meines Gehirns sind, die ich mir mithilfe der Kinderfotos und Büchern zusammengesponnen habe.
Irgendwann blicke ich wieder auf und begegne Falcs Blick, der mich aufmerksam beobachtet.
"War sie oft zuhause?"
"Nein. Selten mal am Wochenende oder am Morgen."
"Hat sie sonst gearbeitet?"
"Kann man so sagen...", murmle ich und versuche das getrocknete Blut unter meinen Fingernägeln hervorzukratzen.
"Wie meinst du das? Was hat sie gearbeitet?"
"Ich weiss es nicht genau...sie hat sicher Drogen vertickt und...wahrscheinlich noch mehr...Dinge im Rotlichtmilieu."
"Du meinst Prostitution."
Ich nicke mit zusammengepressten Lippen.
"Was für Drogen hat sie vertickt?"
"Heroin und anderes."
"Sie hatte grosse Mengen Heroin im Blut als sie aufgefunden wurde. Wie lange hat sie das schon genommen?"
Ich seufze nachdenklich. "Kurz nach dem mein Vater...gegangen ist, hat sie angefangen...und dann wurde sie sehr rasch abhängig. Deshalb mussten wir auch das Haus verkaufen und alles."
"Hatte deine Mutter einen...Zuhälter?"
Ich erstarre für einen Moment. Natürlich habe ich Tom nicht vergessen, seine Gewaltausbrüche und seine Kraft die ich immer zu spüren bekam, wenn ich etwas falsch gemacht hatte. Eine Welle aus Hass überkommt mich, als ich daran denke, dass er derjenige war, der meine Mutter zu dem machte. Zu einem willenlosen Junkie. Er kannte ihre Situation und er nutzte sie schamlos aus, um sie gefügig zu machen. Und jetzt hatte er sie umgebracht?
"Ja...Tom...", murmle ich während die Welle aus Hass und Verzweiflung über mir zusammenschlägt. Ich habe immer gehofft, sie da rauszubringen. Ich wollte es.
Aber ich war nicht stark genug, nicht gut genug, ich habe sie aufgegeben. Sie aufgegeben, als ich aufhörte gut in der Schule zu sein, als ich von der Brücke sprang, als ich ihre Drogen nahm, als ich wegrannte statt weiter um ihr Leben zu kämpfen. Ich war so dumm, ich bin so dumm. Statt zu glauben, dass sie ohne mich besser dran war, hätte ich weiter kämpfen sollen, für sie. Ich war so dumm und egoistisch.
"Tom...wie weiter?", fragt Falc und ich will etwas sagen, doch die Worte werden in meiner Kehle erstickt. Sowohl das Schluchzen als auch meine Antwort bleiben mir im Hals stecken und ich sitze für einen Moment wortlos da und werfe dem jungen Kriminalkommissar einen hilflosen Blick zu.
"Was ist los?", fragt er behutsam und legt seine warme Hand auf meine. Ruckartig ziehe ich meine weg, schaffe es mit Mühe zu schlucken und den Kopf zu schütteln.
"Ich weiss ihn nicht. Den...Nachnamen. Aber die Wohnung läuft auf ihn..."
"Okay", meint der Polizist leicht argwöhnisch und kritzelt etwas auf seinen Block.
Eigentlich bin ich überrascht, dass er mich noch nichts über mein Verschwinden gefragt. Und darüber wie ich sie gefunden habe...was dann passiert ist...Papa. Der süssliche Blutgeruch, die gläsern grünen Augen. Samus Augen. Diese unglaublichen Schmerzen. Ihre langen dunkelblonden Haarsträhnen. Blut aus ihrem Hals, ihre schlaffen Finger.
Was wenn er sie umbrachte, weil ich ihr das Geld gestohlen hatte? Weil die Polizei sie wegen mir suchte?
"Mir ist schlecht", keuche ich und beginne zu würgen. Aus dem Augenwinkel erkenne ich, wie Aaron sich rasch von der Wand abstösst und mir einen Bruchteil einer Sekunde später eine Nierenschale vors Gesicht hält.
Alles was rauskommt ist Galle, schliesslich habe ich schon seit Tagen keine feste Nahrung mehr zu mir genommen. Mein Rachen und meine Rippen schmerzen und ich stöhne gequält auf, als ein weiterer Würgekrampf auf den ersten folgt. Eine Hand streicht beruhigend über meinen Rücken und ich spüre, wie mich heisse Scham überkommt als die Finger über meine hervorstehenden Wirbel und Rippen fahren. Ich entwinde mich der Berührung und schaffe es endlich mich wieder aufzurichten.
"Hier", höre ich Aaron sagen und nehme mit zitternden Fingern das Glas Wasser entgegen, das er mir reicht.
"Was war los?", fragt der junge Kriminalkommissar neben mir und wirft seinem Kollegen einen dankbaren Blick zu.
"Du hast nur ins Leere gestarrt", ergänzt er leise, während sein blonder Freund wieder an seinen Platz an der Wand zurückkehrt.
"Ich...bin schuld, dass sie tot ist!"
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Schattenfall
Teen FictionDrogen in der Keksdose, blaue Flecken von Mamas Liebhaber, blutige Zähne und schlechte Noten in der Schule. Andreas hält nicht viel von seinem Leben. Aber sterben scheint schwieriger zu sein, als gedacht. Besonders als Nick zum ersten Mal sein trist...