Die Familie auf dem Foto sieht viel zu perfekt aus. Wie ausgeschnitten aus einem kitschigen Elternmagazin: Ein gut gebauter Vater, eine schöne junge Mutter, zwei kleine hübsche Jungen, die mit strahlend weissen Zähnen in die Kamera strahlen.
Ich kann nicht mehr.
Glas zersplittert laut auf dem Boden und die Scherben bedecken den grauen Boden, als das Foto auf das vergammelte Linoleum trifft. Ein Riss durchtrennt die perfekten Menschen auf dem Bild, geht durch Mamas zierliches Gesicht; durch Papas breite Schultern und durch die Sonne, die wie ein Heiligenschein unsere Köpfe beleuchtet.
"Nein!", höre ich Mamas Stimme hinter mir, schrill und doch irgendwie zerkratzt. Ihre Schritte klingen hastig auf dem alten Boden, im nächsten Moment reisst sie mich zur Seite und kniet mit einem panischem Ausdruck im Gesicht mitten in die Scherben. Ihr magerer Körper zittert vor Hass und Verzweiflung, als sie sich wieder zu mir umdreht und ihre mit Schminke verschmierten Augen blicken mich entgeistert an. Ich weiche ihr aus, versuche ihr nicht in die Augen zu sehen.
"Wieso hast du das gemacht, verdammt! Wieso machst du alles kaputt, was mir etwas bedeutet? Weshalb? Sag es mir!", faucht sie voller Wut und im nächsten Moment spüre ich, wie ihre Faust mich ins Gesicht trifft, dann in den Bauch, immer und immer wieder, und doch zu schwach, um mich ernsthaft verletzen zu können. Ihre langen Fingernägel bohren sich tief in meine Wange, als sie endlich damit aufhört. Ihre Augen funkeln mich noch für Sekunden mit einem Hauch von Verrücktheit und grenzenlosem Hass an, dann sinkt sie in sich zusammen. Tränen strömen über ihre Wangen und bilden zusammen mit der Schminke schwarze Rinnsale, ihre Finger wühlen fahrig in den Scherben, versuchen verzweifelt alles wieder zusammenzusetzen. Blut tropft auf den Boden, als sie sich an dem Glas schneidet, einmal, zweimal, dreimal.
"Ich wünsche ich hätte dich nie geboren, verstehst du? Geh einfach, verschwinde! Ich wünsche du wärst tot, -du bist das einzige, das mein Leben zerstört, du verdammter Mistkerl!",
"Mama, hör mir zu, bitte! Es tut mir leid, ich...es ist passiert. Ich würde alles für dich tun, alles was du willst, verstehst du? Alles.", bricht es wie eine Woge aus Schmerz aus mir heraus.
"Alles.", hallt es durch die Wohnung, wie eine Mahnung.
"Wenn du mich lieben würdest, würdest du aus meinem Leben verschwinden und nie mehr zurückkommen. Das ist alles."
Wir hocken noch eine Weile da. Ob Stunden oder nur Minuten.
Bis die Wohnungstüre mit einem lauten Knacken aufgeht und Tom durch die Tür tritt. Tom, der nun im makellosen Anzug in der Tür steht, der uns knapp am Leben hält und den ich doch am meisten von allen Menschen verabscheue.
"Was ist passiert, Schatz?", ruft er meiner Mutter zu und packt mich gleichzeitig an den Schultern, so damit ich nicht an ihm vorbeikommen kann. Fest drückt er mich an die Wand und ich spüre wie eine Welle aus Angst durch mich hindurchwogt. Ich weiss was jetzt kommt.
"Ich hasse ihn! Ich hasse diesen verdammten Scheisser! Er soll endlich verrecken!", heult sie auf, wie ein verwundetes Tier und Toms Griff wird noch fester. Er lehnt sich mit allem Gewicht gegen mich und ich spüre, wie die Luft mir langsam ausgeht. Dann trifft mich der Schlag mit voller Wucht in den Bauch.
Als die Schläge irgendwann verstummen, schaffe ich es nicht mehr aufzustehen, sooft ich es versuche, geben meine Beine unter mir nach und schwarze Flecken tanzen vor meinen Augen. Doch nach einer Weile schaffe ich es zur Tür, torkle hinaus in den Gang und lasse Mamas Schluchzen und Toms höhnisches Grinsen hinter mir.
Die Strasse ist leer, als ich hinaustrete, kein Mensch scheint draussen zu sein. Immer noch ist es früher Nachmittag; ein Schultag wie jeder andere eigentlich. Bloss ohne mich.
Immer näher komme ich dem Fluss, während ich durch das Quartier gehe und immer wieder schwer atmend eine Pause einlege.
Es wäre besser für alle wenn ich sterben würde. Es wäre so viel leichter. Es wäre endlich alles vorbei. Die Angst, die Schmerzen und die Hoffnungslosigkeit. Mama würde das Leben führen können, das sie sich im Moment wünschte. Auch wenn es nur eine Sucht war, eine elende Sucht, die das letzte Stückchen unserer Familie zerstört und sie zu einem Wrack gemacht hatte. Sie war nur noch ein willenloses Skelett, das alles tat, um mehr davon zu bekommen und immer mehr in seinen Bann gezogen wurde.
Als ich die Brücke betrete sind bloss wenige Spaziergänger zu sehen, alte Frauen und Männer, ein entfernte Jogger und hupende Autos. Was würde ich verlieren?
Nichts, absolut nichts.
Das Geländer fühlt sich kalt an unter meinen Fingern und ein heftiger Windstoss bläst mir meine Haare ins Gesicht. Die Wahrscheinlichkeit zu Sterben wäre hoch, denn das Wasser ist nicht sonderlich tief und der Boden steinig. Aus dieser Höhe würde ich keine Chance haben.
Ich müsste mich nur auf die andere Seite des Geländers stellen, wie es kleine Jungen als Mutprobe machen, und loslassen. Dann würde ich fallen und entweder durch den Aufprall sterben oder ertrinken.
Kein schöner Tod.
Aber was bleibt mir schon anderes übrig.
Meine Finger schliessen sich fest um das eisige Metall und ich spüre, wie ein letztes ängstliches Flackern in mir aufkommt. Ein letzter Zweifel noch, dann habe ich mich endgültig entschieden.
"Junge, was tust du hier? Solltest du nicht in der Schule sein?", durchbricht eine Stimme meine Gedanken und ich erstarre in einem Anflug von Angst, als ich zuerst glaube Toms Stimme zu hören.
In einer beinahe panischen Bewegung drehe ich mich um und erkenne zwei junge Polizisten, die genau vor mir stehen und mich aufmerksam mustern.
"Doch, aber ich...habe erst später richtig Schule...", stammle ich nervös. Mein Plan wird scheitern, wenn ich die Beamten nicht loswerden würde, denn ihnen traue ich es zu, schnell genug zu sein, um mich aufzuhalten."
"Nicht richtig Schule? Was heisst das denn?", fragt der schwarzhaarige Polizist mit einem beinahe belustigten Gesichtsausdruck.
"Ich hätte Sportunterricht.", antworte ich knapp.
"Und du bist suspendiert?"
"Nein."
Ein schwaches Seufzen ist die Antwort. "Hast du irgendwelche Personalien bei dir?", fragt mir nun der andere Polizist, während er meine Hand auf dem Geländer nicht aus den Augen lässt-
"Nein."
"Kannst uns wenigstens deinen Namen sagen?"
"Andreas."
"Und wie weiter?"
Ich gebe keine Antwort, stattdessen nehme ich all meine Kraft zusammen und schwinge mich über das Geländer. Noch einen Moment scheint die Zeit stillstehen und ich sehe, wie ein Arm nach mir greift, sehe den graublauen Himmel und die weissen Wolkenfetzen. Das perfekte Foto.
Dann schlägt das Wasser über mir zusammen.
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Schattenfall
Teen FictionDrogen in der Keksdose, blaue Flecken von Mamas Liebhaber, blutige Zähne und schlechte Noten in der Schule. Andreas hält nicht viel von seinem Leben. Aber sterben scheint schwieriger zu sein, als gedacht. Besonders als Nick zum ersten Mal sein trist...