Kapitel 35. Nick

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"Bist du okay?", fragt Nick mit beunruhigter Stimme. Seine schokoladenbraunen Augen sind der einzige Grund, weshalb ich nicht gleich in Tränen ausbreche.

"Ja...", gebe ich stockend von mir und senke müde den Blick.

"Er hat dich geschlagen", spricht er das Offensichtliche bestürzt aus. Seine verwuschelten hellen Haare und dunkelbraunen Augen lassen ihn noch naiver erscheinen, als er mir ohnehin schon vorkommt. Naiv, weil er glaubt, dass das nicht normal ist, in seiner Welt. Weil er glaubt, dass seine Welt auch meine Welt ist und überhaupt die ganze Welt.

"Es ist schon in Ordnung." 

Nick furcht die dunkelblonden Augenbrauen. "Nein, ist es nicht. Er kann dich nicht so behandeln."

"Natürlich kann er das", bringe ich unter leisem Lachen hervor. Meine trockenen rissigen Lippen schmerzen bei dieser kleinen Bewegung. Bald werde ich wieder den eisernen Blutgeschmack im Mund spüren. 

Der junge Student schüttelt den Kopf. "Er hat dir wehgetan. Und es ist nicht in Ordnung, dass du bewegungsunfähig ans Bett gefesselt bist. Du kannst nicht einmal die Klingel erreichen."

"Und was soll ich deiner Meinung nach dagegen tun?", frage ich irritiert und drehe klirrend mein Handgelenk mit der Fessel. Sie sitzt hart, so hart, dass es wehtut. 

"Hast du einen Anwalt?"

Genervt sehe ich auf. "Ich will keinen."

"Warum nicht?", fragt er ohne den Blick zu senken. Das Kinn auf eines seiner Knie gestützt und die blonden elektrisch aufgeladenen Locken wie eine tanzende Aura um seinen Kopf züngelnd, erinnert er mich an eine fleischgewordene griechische Statue.

"Ich will nicht tausende von Gesprächen führen, in denen mir gesagt wird, was ich sagen soll und was nicht." 

"Und ich kann mir keinen leisten", ergänze ich matt. Ich habe keinen Cent mehr.

"Aber du willst doch freigesprochen werden?"

Ich schaue ihn verwirrt an. Natürlich will ich das.

"Also ja?", fragt Nick geduldig nach.

Ich nicke.

"Du kannst darum bitten, mit deinem Pflichtverteidiger reden zu dürfen...", beginnt Nick. 

"...der erklärt dir dann, wie das Verfahren abläuft, was du zu befürchten hast und was nicht. Oder..."

Er unterbricht sich.

"Ich kann meinen Vater fragen, ob er da etwas machen kann. Wir sind ja quasi verwandt."

Ich zucke unabsichtlich zusammen, als verwandt sagt. Verwandt, mit ihm und seiner perfekten Familie. Mit Papa und dessen perfekter Familie.

"Mein Vater ist Anwalt", schiebt er unsicher nach, als er meinen gedankenverlorenen Blick bemerkt.

"Nein", wehre ich leise ab. "Es ist schon in Ordnung. Du bist nicht zu etwas verpflichtet, nur weil wir irgendwie verwandt sind. Ich gehöre nicht zu eurer Familie, das ist schon okay so."

Nick verschiebt sich in den Schneidersitz und mustert mich lange. Irgendwann verändert sich sein Gesichtsausdruck, als wäre ihm in dieser Sekunde etwas Furchtbares eingefallen. Er rappelt sich hastig vom Bett auf, ohne mir noch einen Blick zuzuwerfen.

"Ich gehe auf Toilette."

Verwirrt blicke ich ihm hinterher, als er raschen Schrittes aus dem Raum tritt. Es sieht ihm nicht ähnlich, so etwas unbeantwortet im Raum stehen zu lassen. Er antwortet immer, auf jede Frage, auf jede Aussage. Nur jetzt nicht.

Für einige Minuten liege ich bewegungslos auf dem Bett und starre die Decke über mir an. In meinem Kopf tobt eine Kakophonie von Gedanken, laut und schrill versuchen sie sich gegenseitig zu übertönen. Ein heulender, wimmernder, zeternder Orkan in meinen Gehirnwindungen. 

Doch dort wo ich stehe, ist es windstill. Nichts kommt an. Die jammernden Gedanken prallen mir ab, ich beobachte sie ohne etwas zu fühlen.

Dann kriecht die Angst aus irgendeinem Winkel meines Unterbewusstsein meinen Bauch hinauf und setzt sich auf meinen Brustkorb. Es ist eine plötzliche Angst ohne einen rationalen Ursprung. Und sie frisst mich auf, nimmt mir die Luft, presst mich so hart gegen das Bettgestell, das ich glaube, meine Rippen brechen zu hören.

Erst leise knirschend. Dann ein ohrenbetäubendes Knacken. So laut, so absurd laut.

Ich schnappe nach Luft. Strecke meine Beine, ziehe sie wieder an mich. Vergebens. Die böse Zwillingsschwester der Angst hält mich bereits fest im Würgegriff.

Das Pochen meines Herzens dröhnt in meinen Ohren, lässt meinen zerschmetterten Brustkorb beben, als ob es herauszuspringen drohte. Es soll enden, ich will nichts mehr fühlen. Nichts, nichts, nichts mehr. Nie mehr.

Vielleicht kommt Nick nicht wieder. Vielleicht hat er um ein anderes Zimmer gebeten. Vielleicht komme ich für fünfzehn Jahre ins Gefängnis. Fünfzehn Jahre. Dann wäre ich 32. 

32. 

32. 

32.

Ich kneife meine Augen zusammen. Das ist alles nicht echt. Nicht echt. Nur ein Alptraum. Die Welt dreht und bebt um mich herum. Das liegt alles nur am fehlenden Sauerstoff, das ist mir klar.

Dann erfasst glühender Schmerz mein Handgelenk. Ich schreie auf. Vielleicht glaube ich auch nur das ich es tue. Es tut weh, so weh.

Plötzlich ist Nick da. Sein Gesicht ist nah an meinem, so nahe, dass ich seine weichen Haare, die immer in Bewegung sind, auf meiner Wange zu spüren glaube.

Vielleicht stelle ich mir das nur vor.

"Es tut so weh", wimmere ich und versuche mich darauf zu konzentrieren, wach zu bleiben. 

"Ich weiss", sagt Nick und seine kühlen Finger streicheln meine Wange. Die Panik verfliegt etwas. Er ist da. Nick ist da. Der Rest ist nicht so wichtig.

"Ich glaube ich werde ohnmächtig", seufze ich und beobachte beinahe glücklich, wie die schwarzen Flecken sich um Nick herum ausbreiten.

Als ich die Augen wieder öffne, bin ich umgeben von blauweiss gekleidetem Pflegepersonal. Mein Gesicht ist feucht, ich bemerke, dass ich weine. Meine Sicht ist tränenverzerrt. Es tut verflucht weh.

Ein bekanntes Gesicht taucht vor mir auf. Seine Lippen bewegen sich, doch es dringt kein Ton hinaus.

Stattdessen höre ich die jämmerlichen Schluchzer, die aus meiner Kehle dringen und meinen Brustkorb beben lassen. 

"Es tut so weh", sage ich mit zitternder Stimme. Ich höre keine Antwort, aber jemand drückt beschwichtigend meinen Oberschenkel.

Der Ton kommt irgendwann zurück. Ein unregelmässiger Chor aus Stimmen, die durcheinander reden, wie die Gedanken in meinem Kopf.

Ich erhasche einen Blick auf meine Hand, die da seltsam verkrümmt noch immer in der Handschelle hängt. Handgelenkbruch wahrscheinlich, sagt der nickelbebrillte Arzt und verabreicht meiner Vene noch mehr Schmerzmittel.

Dann sehe ich endlich Nick. Er lehnt in der Ecke des Raumes, eng an die Wand gedrückt.             Und er lächelt schräg und unsicher als sich unsere Blicke treffen.


Danke vielmals für's Abstimmen und Kommentieren!

Nächste Woche (oder vielleicht noch diese) geht's mit dem anderen Buch weiter! 









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