Kapitel 19.

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Als ich die Augen wieder öffne, erkenne ich immer noch das Gesicht des Polizisten über mir. Seine blauen Augen weiten sich, als er meinen Blick bemerkt, dann dreht er denn Kopf rasch zur Seite.

"Cem, er ist wieder wach", spricht er eine Person ausserhalb meines Sichtfeldes an, vermutlich seinen Kollegen. Ich versuche mich zu orientieren, über mir sehe ich nur die graue Decke eines Autos und das blonde Haar des Polizisten. Ich liege quer über die Autositze.

"Zum Glück! Der RTW sollte gleich da sein, versuch ihn bis dahin wachzuhalten", höre ich die Stimme des anderen Polizisten in meiner Nähe.

"Hey Andreas, schön dich wieder bei uns zu haben. Wie geht es dir?"

Ich lasse meinen Kopf auf meine Schulter kippen und nicke kaum spürbar, schliesse die Augen. Eine Hand fährt durch meine Haare, lässt mir meine Locken ins Gesicht fallen und tätschelt nachdrücklich meine Wange.

"Andreas! Schön die Augen offen lassen, okay?"

Mit einem leisen Murmeln antworte ich, lasse jedoch die Augen geschlossen. Aber die Hand hört nicht auf, bis ich schliesslich mühsam und flackernd wieder die Lider hebe.

"So ist gut. Du darfst bald schlafen, Andreas. Aber erst wenn der Arzt da ist, verstehst du?"

Ich antworte wieder nicht. Versuche irgendetwas in seinem Gesicht zu entdecken, das mich von meinen Gedanken ablenkt. Von Mama, von Jonas und Samuel. Von meiner Schuld.

Der Polizist sieht aus, wie ein lebendiges deutsches Klischee. Seine Augen sind stechend blau, seine Haare so hell, dass er schon als Schwede durchgehen könnte. Seine Wangenknochen sind hoch und seine Nase erstaunlich gerade. Er mustert mich genau und kaut währenddessen ununterbrochen auf seiner Lippe herum, erwidert meinen Blick mit einem merkwürdigen Ausdruck in den hellen Augen.

"Weisst du noch wie ich heisse, Andreas?"

"Mmm...Aaron...", murmle ich unsicher.

"Und weisst du welcher Tag heute ist?"

"Nein.", flüstere ich und begegne dem beunruhigten Blick des Beamten.

"Okay. Und weisst du welches Jahr wir haben?"

"2018."

"An welchem Tag hast du Geburtstag?"

Ich starre nachdenklich die Decke an.  

"22. November."

Der Polizist stoppt in seiner Bewegung und wischt sich dann nach wenigen Augenblicken mit dem Handrücken über die Lippen, den Blick starr ins Leere gerichtet. 

Ich versuche für ein paar wenige Sekunden die Augen zu schliessen, doch sofort spüre ich wieder seine Hand auf meiner Wange, die sie gnadenlos tätschelt. 

"Andreas, schön die Augen offen behalten!"

Ich öffne die Augen erst, als ich Sirenen höre, die immer näher zu kommen scheinen. Aarons blaue Augen mustern mich immer noch mit einem seltsamen Ausdruck und er streicht sich mit den langen Fingern nervös durch das flachsblonde Haar. 

"RTW ist da", konstatiert der andere Polizist erleichtert und sein dunkler Blick trifft meinen flüchtig. Das Sirenengeheul schneidet in meinen Ohren, das Blaulicht spiegelt sich in den Scheiben. Dann passiert alles viel zu schnell. Türen werden geöffnet, kalte Luft packt mich und schlagartig spüre ich das heftige Zittern wieder.

"Was habt ihr?", höre ich eine fremde Stimme, ausserhalb meines Blickfeldes sagen.

"Unterkühlung, ein verletzter Arm und ein paar Gesichtsläsionen. Wir haben ihn im Park gefunden, war bei Bewusstsein und konnte auch mit uns reden, aber dann ist er im Auto ohnmächtig geworden. Jetzt ist er wieder aufgewacht."

"Habt ihr ihn bewegt ?", kommt die Antwort mit schneidender Stimme.

Betretenes Schweigen folgt. Nach einem schwachem Nicken des blonden Polizisten, antwortet sein Kollege leise. 

"Er konnte gehen. Halbwegs zumindest."

"Halbwegs...", murmelt der andere Mann, noch kühler als vorhin.

Jetzt erkenne ich auch die dritte Person, die sich mit gerunzelter Stirn über mich beugt, nur wenige Zentimeter über mir. Es ist ein  junger Mann, mit dunklem Haar und dunklen Augen, gekleidet in der rot-gelben Uniform des Rettungsdienstes. Er mustert mich mit ernster Miene und dreht sich dann wieder zum Beamten hinter ihm um, der ihm vorsichtig Platz macht.

"Okay, was habt ihr für Informationen?"

"Andreas Stern, heisst der Junge. 17 Jahre alt. Viel mehr wissen wir auch nicht."

"16", murmle ich mit geschlossenen Augen. Es dauert nur Sekunden, bis ich wieder eine Hand an meiner Wange spüre. 

"Augen offen halten, Andreas."

Müde schlage ich wieder die Lider auf. Statt blauen mustern mich nun die dunklen Augen des Notarztes. 

"17 oder 16 jetzt?", fragt der Dunkelhaarige nach und gibt jemandem hinter ihm ein Zeichen. 

"16", murmle ich, doch der Polizist, der ausserhalb des Autos steht, protestiert. Ich will den Kopf schütteln, doch der Notarzt hindert mich mit beiden Händen daran, dann macht er jemandem hinter mir ein Zeichen.

"Wir verschieben das auf später. Andreas, wir holen dich jetzt vorsichtig hier raus, okay?"

Ich antworte nicht, kämpfe stattdessen gegen die Ohnmacht und die aufsteigenden Schreckensbilder. Leichengesichter, Blut und stumme Augen. Ich schliesse die Augen, öffne sie irgendwann wieder, über mir heller, eisblauer Himmel, von grauen Wolkenschwaden überzogen. Wortfetzen gelangen in meinen Verstand.

"Schnell zudecken...noch i.v...Sauerstoff..."

Arme greifen nach mir, ab und zu erkenne ich Gesichter, jemand redet auf mich ein. Es ist alles da, doch ich kann es nicht zusammensetzen, es ist ein riesiges Rätsel. Ich spüre meinen Körper nicht mehr, nur noch ein einziges Kribbeln. Etwas bedeckt meine Nase, Flimmern breitet sich in meinem Kopf aus.

"Andreas!"

Ich spüre eine Hand auf meiner Stirn, dann tätschelt jemand wieder meine Wange. Ein mir unbekanntes Gesicht schwebt über mir. Eine Frau mit wachen, dunklen Augen steht neben dem Mann von vorhin.

"Kannst du mich hören?", fragt sie und ich nicke stumm, fast unmerkbar.

"Du musst versuchen ganz ruhig zu atmen, verstehst du? Ein. Aus. Ein. Aus."

Ich versuche auf sie zu hören, an nichts zu denken. Nur atmen. Wo ist der Polizist hin, Aaron?    Wo sind bloss alle hin? Wo ist mein Vater? Meine Mutter? Samuel? Jonas? Meine Lehrer? Die Sanitäter? Die Ärzte? Die Polizisten? Wo sind sie jetzt?

"Alex, der kippt gleich weg."

"Ruhig atmen, Andreas. Ruhig."

Sie werden nicht zurückkommen.

"Andreas!"

Wenn ich den Ball nicht geworfen hätte, wäre Samuel noch da? Wenn ich früher ins Zimmer gekommen und nicht noch gedankenverloren am Fenster gestanden höre, wäre Jonas noch am Leben? 

Wenn ich da gewesen wäre, wäre Mama nicht tot. 

Wenn ich nicht gewesen wäre, wäre sie noch glücklich. Mit einem anderen Mann als Tom. 

Ohne Schnee, ohne Alkohol, ohne mich. 

Sie hätte dieses Leben verdient. Ich nicht.



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