Ich schiebe mir wenig elegant den Löffel voller Schokocreme in den Mund. Sie reden, niemand sieht zu mir rüber. Es geht um irische Unabhängigkeit und Autobomben und die nächsten Wahlen. Ich höre schweigend zu, das Thema ist mir zu fremd, um etwas Sinnvolles beizutragen. Es stört mich nicht, das warme Sättigungsgefühl hat sämtliche meiner Überlebensinstinkte ausgeschaltet und mich matt und arglos am Esstisch zurückgelassen.
"Warst du schon mal in Grossbritannien, Tres?", fragt Nicks Vater irgendwann, nach einem bestimmt fünfminütigen Monolog seines Sohnes über sein Semester in Irland.
"Nein", meine ich verlegen und nehme einen Schluck aus meinem Glas. Es ist beinahe leer und die Karaffe steht auf der anderen Seite des Tischs. Ich war noch nie in Grossbritannien, auch nicht in Frankreich oder Dänemark. Nur in Frankfurt und Berlin mal, auch schon ne Weile her.
"Musst du unbedingt mal", sagt Nick, als wäre es für mich nicht schon unmöglich genug, diese verfluchte Stadt überhaupt zu verlassen. „Ja vielleicht", erwidere ich und hebe die Mundwinkel. An Nicks Unterlippe klebt Schokolade, aber vor seinen Eltern wage ich nicht, sie ihm wegzuwischen. Es ist seltsam, wir reden über so viel und schweigen doch über das meiste. Über mich zum Beispiel. Und darüber, dass mein Vater uns betrogen und verlassen hat, nur um einen Platz in ihrer Familie zu finden. Sind auch alles nicht Themen für ein erstes Kennenlernen.
"Vielen Dank für das Essen", bemerke ich, als Mattis beginnt, die leeren Dessertschalen einzusammeln. "Es hat alles toll geschmeckt. Kann ich...etwas abwaschen oder sonst was helfen?"
Nicks Vater lächelt kurz. Sie sehen sich erstaunlich ähnlich, wenn der ernste Gesichtsausdruck einmal aus seinem Gesicht verschwindet.
"Auf keinen Fall", sagt er trocken. "Für einen Gast hast du heute schon viel zu viel Geschirr gespült. Ausserdem müsst ihr nicht hier mit uns alten Menschen rumsitzen, – geht einen Film schauen oder so."
"Ich kann gerne helfen", protestiere ich betreten. "Ich mach das schon", erwidert Paulina schmunzelnd und nimmt ihrem Mann die leeren Schüsseln aus der Hand. "Dzięki mamo", sagt Nick warm und greift nach meiner Hand. "I dzięki za jedzenie, tato. Sagt Bescheid, wenn ich was helfen kann."
Nicks Zahnpasta schmeckt ekelhaft, sie klebt in meinen Mundwinkeln und brennt in meinem Rachen. Angewidert spucke ich sie ins Waschbecken, wo sie sich schäumend und knisternd in den Abfluss verpisst. Durch das gekippte Fenster dringen gedämpft die bekannten Geräusche einer Samstagnacht. Sirenen, entferntes Gelächter, selten ein Motor, der aufheult. Es fühlt sich seltsam einsam an, in diesem Badezimmer mit den blauweissen Kacheln und dem tiefschwarzen Himmel hinter dem Milchglas. In der Wohnung ist es totenstill geworden, auch wenn ich weiss, dass Nick noch wach sein muss.
Kurz werfe ich einen Blick auf mein Gegenüber im Spiegel, streiche mir ein paar abstehende Locken zurecht. Die Narbe von der Naht an meiner Wange ist noch da, graublau wie meine Augenringe klebt sie auf meiner Haut und lässt sich bis jetzt weder mit Narbencreme noch Make-up vertreiben. Genervt wische ich mir mit nassen Händen übers Gesicht, schalte das Licht aus, bevor ich in den dunklen Flur raustrete.
Nick sieht auf, als ich sein altes Kinderzimmer betrete. "Hey", meint er sachte, als ich mich neben ihm auf's Bett sinken lasse. "Wie gehts?"
"Gut", murmle ich belustigt und stopfe meine gebrauchten Socken in meinen Rucksack zurück. Die mit den dutzenden grünen Papageien, die mir Nick ausgesucht und Falc wortlos und mit Grabesmiene toleriert hat.
"Soll ich das Licht löschen?", frage ich, als ich meine eisigen Füsse unter die Bettdecke ziehe.
"Ich mach schon", erwidert er unbeirrt und streckt einen Arm aus, um einen nahe gelegenen Lichtschalter zu bedienen. Ich lasse mich in die Kissen zurücksinken, als das Zimmer stockfinster wird, Nicks warmer Körper berührt meinen bei jedem Atemzug. Er atmet regelmässig, ein, aus, ein, aus. Ich starre an die Decke, die sich allmählich über mir materialisiert, kann mich nicht daran erinnern, ob ich überhaupt noch gute Nacht gesagt habe, bin mir nicht sicher, ob ich gerade geschlafen habe. Nicks Arm liegt unter meinem Nacken, mein Gesicht an seiner Brust, mir ist furchtbar warm.
"Nick", flüstere ich unruhig. Er antwortet nicht. Ich fasse nach dem dünnen Stoff seines T-Shirts, rutsche ein Stück runter, um seinen Arm loszuwerden, lehne den Kopf an seinen flachen Bauch.
Jemand streicht mir durchs Haar. Nicks braune Augen sind in der Dunkelheit schwarz. "Hi", murmelt er verschlafen und zieht mich unwillkürlich an sich. Sein Mund berührt meine Wange, ich neige den Kopf, sodass sich unsere Lippen treffen. Er seufzt leise, greift mit einer Hand nach meinem Nacken, um den Kuss in die Länge zu ziehen.
"Kannst du mich immer so wecken?", murmelt er, ohne mich loszulassen. "Wollte ich nicht", erwidere ich betreten. "Dich wecken, meine ich."
Nick lächelt, seine Hand liegt an meiner Hüfte.
"Du kannst mich immer wecken. Du bist eh so schnell eingeschlafen, dass ich dir nicht mal Gute Nacht sagen konnte."
"Sorry", murmle ich betreten. "Ich..."
"Keine Entschuldigung notwendig", unterbricht mich Nick leise und lehnt seine Stirn an meine. Seine Lippen schmecken nach Zahnpasta, meine wahrscheinlich auch. Ich stütze mich auf den Ellbogen ab, um ihm näher zu sein, sein blondes Haar kitzelt, als er sich über mich beugt.
"Tres", murmelt er und vergräbt sein Gesicht an meinem Hals. "Hmm", bringe ich mit stockendem Atem hervor. "Ist es okay, wenn ich mein T-Shirt abziehe?"
"Ja eh", antworte ich verlegen, beobachte ihn im Halbdunkel dabei, wie er sich den verschwitzten Stoff über den Kopf streift. Er ist so schön, das sehe ich selbst in diesem Licht, die dunklen Augen blitzen belustigt, als er sich über mich stützt. Seine Haut ist warm und glatt, als ich mit den Fingern drüberstreiche. Mir ist furchtbar heiss, mein T-Shirt klebt auf meiner Haut, ich will es gerne abziehen, aber die Narben sind immer noch da, kleben rau und hässlich an meinem Oberkörper.
Seine Lippen wandern über meinen Hals, lassen mich kurz zurückzucken. "Keine...Knutschflecken", bringe ich verlegen hervor, Nick lacht leise. "Okay", flüstert er in mein Ohr. "Aber meinen Eltern ist das scheissegal, nur dass du's weisst."
"Trotzdem", murmle ich und küsse stattdessen den hellen Bogen seines Schlüsselbeins. "Nick, überlegst du dir eigentlich, dein Studium abzubrechen?"
"Vielleicht", meint er und wischt sich belustigt das helle Haar aus den Augen. "Seh den Sinn dahinter nicht so. Ich mach noch den Bachelor fertig. Wenn ich die Prüfungen schaffe."
"Was willst du nachher machen?"
"Keine Ahnung, vielleicht mal ein Jahr arbeiten oder so", bemerkt er und streicht mir durchs Haar. "Weisst du schon, was du machen willst?"
"Prüfungen bestehen", erwidere ich knapp. Nick lacht leise. "Machst du eh."
"Du auch."
Er schüttelt den Kopf, küsst mich wortlos. Seine Hand streicht über meinen nackten Bauch, über die Narben und die Rippen, hoch bis zu meinem Hals.
"Wie ist er eigentlich so...dein Onkel?"
"Mein Onkel?", fragt Nick verwirrt. "Du meinst Frank?"
Ich nicke. Seine dunklen Augen blinzeln.
"Ich...er...ist okay", sagt er, sichtlich unwohl. "Er war nett zu mir, ich fand ihn als Kind immer ganz cool, weil wir mit seinem Auto fahren üben durften und so. Meine Mutter mochte ihn nie besonders."
"Hm", murmle ich, schliesse die Augen wieder. Er war bestimmt ein guter Vater, auch wenn ich mir so sehr erhoffe, das Gegenteil zu hören. Sind ja eigentlich meine Halbgeschwister. Mein Bruder, meine Schwester. Klingt so falsch. Klingt so falsch, weil Samuel schon so lange tot ist. So lange, dass ich mich kaum mehr an ihn erinnere. Es tut nicht weh, nicht so wie bei Mama, das Einzige was bei Samu wehtut, ist der selbstsüchtige Gedanke daran, was hätte sein können. Auch wenn Frank sich verpisst hätte, auch wenn Mama abhängig geworden wäre, immerhin wäre ich nicht alleine gewesen.
"Ich bin froh, dass du ihm die Nase gebrochen hast", meine ich knapp und ziehe mir das T-Shirt über den Kopf. "Ich wünschte nur, du hättest dich nicht dafür entschuldigt."
Hab's endlich geschafft. Danke vielmals für alle Kommentare und Votes, die meine Schreibblockade gelindert haben :)
Was haltet ihr von Nicks Umgang mit der komplizierten Familiensituation und seinem mehr oder weniger netten Onkel?
Diese oder spätestens nächste Woche geht es wieder mit Luis weiter, – ich hoffe, ihr könnt euch noch erinnern, was passiert ist haha :,)
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Schattenfall
Teen FictionDrogen in der Keksdose, blaue Flecken von Mamas Liebhaber, blutige Zähne und schlechte Noten in der Schule. Andreas hält nicht viel von seinem Leben. Aber sterben scheint schwieriger zu sein, als gedacht. Besonders als Nick zum ersten Mal sein trist...