Kapitel 87. Leichtes Spiel

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Der Arzt gibt mir Baldrian-Tabletten zum Schlucken, nichts Starkes, sagt er. Zur Beruhigung, hat man früher hysterischen Frauen gegeben, Hausfrauen in den Sechzigern, wenn man ihnen mitteilen musste, dass ihr Sohn bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist und so. Ich rolle mich auf dem Sofa zusammen und dämmere zwei Stunden lang vor mich her. 

"Tres", tippt mich Danny sachte an. "Es ist jetzt halb eins."

"Ja", bringe ich benommen hervor, setze mich auf, die Haare wirr im Gesicht verteilt. 

"Trink erst mal 'nen Schluck", sagt der Sozialarbeiter, reicht mir ein Glas rüber. Ich verziehe schmerzlich das Gesicht, als Kohlensäure auf meine blutig gebissenen Lippen schwappt. Danny beobachtet mich mitleidig, die braunen Augenbrauen über braunen Augen gefurcht.

"Wie geht's dir?"

"Ich weiss nicht", sage ich müde, fahre mir mit den Fingern durchs wirre Haar. "Hast du eine Bürste?"

"Nein, tut mir leid", erwidert er sachte. "Aber das kriegen wir schon hin."

"Wie denn?", murmle ich, lasse die Hand fallen, um die Knoten zu lösen. Natürlich bleibt sie drin hängen. Eigentlich ja auch egal. Egal. Danny begleitet mich ins Bad am Ende des Arztzimmers. Ich bin mir nicht sicher, ob er das tut, um mir zu helfen oder ob er Angst hat, dass ich was Dummes tue. Ich frage ihn nicht danach.

"Tres, fühlst du dich im Stande weiterzumachen?", fragt er, sein Spiegelbild beobachtet mich beim Händewaschen. Hier drin ist es so kalt, die Kacheln sind weisser als im Krankenhaus. Psychiatrieweiss. 

"Ist nicht so, als hätte ich eine Wahl."

Dannys dunkle Augen reflektieren die Neonröhre über ihm. 

"Du darfst sagen, wenn du nicht mehr kannst, Tres. Das ist in Ordnung. Wenn's nicht geht, dann gehts nicht. Das ist eine sehr belastende Situation und es ist völlig normal, dass du hier an deine Grenzen kommst. Du darfst mir immer sagen, wenn's nicht mehr geht und dann kümmere ich mich drum, dass du raus kannst."

"Meinst du, sie halten mich auf, wenn ich einfach wegrenne?", frage ich mehr an den Spiegel als an ihn gewandt. Danny sagt kurz nichts, aber sein abwartender Blick erinnert mich an Falc. 

"Ah, tut mir leid", ergänze ich, weil mein müdes Hirn so lange braucht, um alle Puzzle-Stücke zusammenzusetzen. Riesige Kleinkindpuzzlestücke. "Du würdest mich daran hindern, das ist ja dein Job. Ist auch egal. Ich...kann wieder rein, in den Saal, meine ich."

"Bist du sicher?", fragt Danny sichtlich besorgt. Noch mal im Flur. Vor der Tür zum Gerichtssaal. Mir ist speiübel, ich wage es nicht, den Mund zu öffnen, deswegen nicke ich bloss. Ich zittere schon wieder. Erbärmlich.

"Herr Stern, wie geht es Ihnen?", fragt die Vorsitzende, unsere Blicke treffen sich dabei kurz.

"Es geht", erwidere ich matt. "Es tut mir leid wegen...der Unterbrechung und allem."

"Das muss es nicht. Fühlen Sie sich in der Lage, weiterhin der Beweisaufnahme beizuwohnen?"

Danny schaut mich an. "Du musst nicht", wiederholt er leise, meinen Arm immer noch fest umgriffen.

"Ja", sage ich. Sage bloss ja, weil ich nicht nein sagen kann. Nicht nein, jetzt, wo mich all diese Augen anstarren, eine Antwort wollen sofort, keine Sekunde später. Sie bringen mich zurück zu diesem Stuhl, meine Unterarme zurück auf das harte Holz, als würde ich hier auf meine immanente Hinrichtung warten. Danny reicht mir meinen Stressball wieder, er gibt ein seltsam tierisches Quietschen von sich, als ich ihn hart zusammendrücke. 

Meine Anwältin schiebt mir ihr Blatt voller Notizen rüber, ihre schnörkelige Schrift verschwimmt vor meinen Augen zu kugelschreiberblauen Hieroglyphen. Vorne geht es um Aufnahmen. Eine Aufzeichnung meines Notrufs. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, was ich gesagt habe. Ich weiss nicht, ob mir das Angst machen soll oder nicht. Viel Zeit zum Überlegen bleibt mir ohnehin nicht, die Richter scheinen die verlorene Zeit wieder wettmachen zu wollen, indem sie sich absichtlich kurz halten. 

SchattenfallWo Geschichten leben. Entdecke jetzt