Kapitel 17.

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Ich wandere tonlos durch die Nacht. Kein Wort, kein Schluchzen, keine Geräusche um mich herum. Es ist alles dumpf und taub. Als ob jemand lange Bahnen dicken Samts eng um meinen Kopf geschlungen hätte, zuziehen würde.

Und die Glühwürmchen tanzen. Klein, schwarz, orange, vor meinen Augen. Sie steigen auf, immer mehr und mehr. Ich weiss nicht wo ich bin. Nicht einmal wo ich hin will. Habe das Gefühl zu vergessen, wo ich überhaupt herkomme. Die Glühwürmchen stechen in meinen Augen, meine Beine geben unter mir nach, ich will die Hand ausstrecken, mich auffangen, doch der Schmerz explodiert in meinem Arm, sobald der Druck nachlässt. 

Ich sacke unsanft zu Boden, lasse meinen Oberkörper zu Boden sinken und bette meinen Kopf in das nasskalte Gras. Der Schmerz in meinem Kopf wird zu einer geballten Wolke, dann verflüchtigt sich der Schwindel langsam. Über mir erkenne ich den Himmel, jetzt dunkelblau, die Wolkenvorhänge sind verschwunden, der Mond hängt wie eine Goldsichel am Himmel, die Geräusche kehren zurück. Züge, Menschen, Autos, Wind. 

Es kommt mir merkwürdig vor, dass alles weitergeht wie zuvor, dass die Welt sich einfach ohne sie weiterdreht. Sie sollten die Uhren stoppen, den Mond verpacken, den Wind knebeln, -ein Vakuum erschaffen. 

Plötzlich merke ich wie kalt es hier ist. Heller Frost bedeckt den Rasen, die Kälte kriecht in meine Fingerknöchel und ich zittere. Meine Jacke ist nicht mehr da. Vielleicht habe ich sie verloren, irgendwo auf einer Bank, in einem der zahlreichen, menschenleeren Buse, in die ich mich gehievt habe oder jemand hat sie mir gestohlen. Der Wind ist eisig und jetzt drängen sich wieder Wolken vor den Mond. Ich will mich nicht bewegen, will gar nichts mehr. Nur hier liegen bleiben, erfrieren.

Aber dann klingen laute Stimmen durch die Stille, Besoffene vermutlich, Partygänger. Sie sollen mich nicht sehen, mich bloss nicht ansprechen, niemand soll das. Ich löse mich auf. 

Ich rapple mich auf, verkneife mir einen Schmerzensschrei, stolpere Richtung Gebüsch. Hastig dränge ich mich durch die Zweige, Dornen krallen sich in meine Hand, meine Füsse verhaken sich in Ranken. Ich lasse mich zu Boden sinken, schlinge fest meinen Arm um den verletzten, lehne den Kopf auf die unversehrte Schulter. Wenigstens betäubt die Kälte den brennenden Schmerz, der mich beinahe um den Verstand bringt. Ich glaube, ich habe noch nie im Leben solche Schmerzen gehabt. Aber die Erschöpfung ist stärker und ich spüre, wie mein Verstand langsam abzudriften scheint. 

Doch die Bilder sind schneller als der Schlaf. Blut färbt alles tiefrot, Knacken, fahle Gesichter, grüne Augen. Pixel. Wieder Blut, Gesicht, Blut, Augen, Blaulicht. Mamas Gesicht verschmilzt mit vielen anderen. 

Ich glaube ich werde wahnsinnig.

Irgendwann ist es hell. Ich weiss nicht wieviel Zeit vergangen ist, ob ich geschlafen habe, bin nur froh, die Gesichter und das Blut endlich los zu sein. Meine Glieder fühlen sich wie tot an, starr, kalt, aber bei jeder noch so geringen Bewegung lösen sie unerträgliche Schmerzen aus. Ich huste trocken, kann nicht mehr damit aufhören, will mich übergeben, aber es kommt nichts raus, nur noch mehr Schmerz. Ich zittere unkontrolliert, meine Zähne schlagen ungewollt aufeinander, verstärken das Kopfweh noch mehr. Stimmen durchdringen die Eiseskälte, ein leises Lachen, gefolgt von einem kurzen Räuspern.

"Es hat ernsthaft gestern Abend noch geschneit! Das wird heute wieder ein Verkehrsdrama geben, so früh im Jahr."

"Na super, noch mehr VUs. Bei diesen Minusgraden müssen wir aufpassen, dass hier draussen kein Obdachloser erfriert. Die Obdachlosenhilfe ist dieses Jahr doch bestimmt wieder eingerichtet worden, oder?"

Ich verstehe die Antwort nicht mehr, denn stattdessen widme ich mich dem weiss-durchsichtigen Schneematsch, der neben meiner Hand die halbverfaulten Blätter bedeckt. Ich will danach greifen, doch im selben Moment in dem ich meine Hand danach ausstrecke, trägt mich der andere Arm nicht mehr und ich schlage mit einem schmerzerfüllten Schrei auf dem nassen Boden auf. Ein Stich, wie ein Elektroschock, bahnt sich durch meinen Arm und zwingt mich zum Luftschnappen. Er pulsiert, betäubt dann alles um mich herum. Als ich wieder bei klarem Verstand bin, höre ich erneut Stimmen.

"Ist da jemand?"

Ich gebe keine Antwort, umklammere bloss den verletzten Arm und presse die Lippen aufeinander.

"Hallo?"

"Aaron, im Gebüsch, du rechts", antwortet eine andere Stimme der ersten.

Ich höre Schnee knirschen, dann erkenne ich jemanden, dessen dunkle Kleidung sich grell vom hellen Schnee abhebt, der sich einen Weg durch die Zweige bahnt. Mit einem unterdrücktem Wimmern weiche ich vor der Gestalt zurück, erstarre jedoch als von hinten weitere Schritte erklingen. Die beiden Männer, die sich mir nähern, tragen Uniformen. Blaue Uniformen. 

Polizisten, formuliert mein erschöpftes Gehirn viel zu spät.

"Hey."

Der Polizist hat sich in die Knie sinken lassen und betrachtet mich nun durch das Gewirr aus Zweigen hindurch. Nervös rutsche ich etwas zur Seite, versuche gleichzeitig beide Beamten im Auge zu behalten, Panik keimt in mir auf.

"Ganz ruhig, er wird nicht näher kommen.", sagt der Polizist mit ruhiger Stimme und macht seinem Kollegen, in meinem Rücken, ein Zeichen. 

"Darf ich näher kommen?"

Ich schüttle kraftlos den Kopf.

"Was ist passiert, hmm? Wir können dir helfen, wenn du uns näher kommen lässt."

Kopfschütteln.

"Ich bin Aaron und wer bist du?"

Ich antworte nicht, schliesse kurz müde die Augen. Als ich sie wieder öffne, kommt es mir so vor, als sei der Polizist näher bei mir, als vorhin, aber ich bin zu erschöpft um darauf zu reagieren.

"Wie alt bist du? 16?"

Ich nicke zögerlich, bevor ich mir dessen bewusst werde. 

"Du bist verletzt. Komm, lass mich das ansehen."

Mein Körper gehorcht mir nicht mehr, ich bleibe regungslos hocken. Der Polizist rutscht ein paar Zentimeter weiter nach vorne. 

"Wie heisst du?"

"Andreas.", murmle ich kaum hörbar. Mir ist kaum noch bewusst was ich tue. Ich glaube ich werde ohnmächtig.

"Lässt du mich deinen Arm einmal ansehen, Andreas?"

Er rutscht noch weiter nach vorne, doch dieses Mal weiche ich kriechend vor ihm zurück. Zweige verfangen sich in meinen Haaren, zerkratzen mein Gesicht. 

"Dir muss kalt sein." 

Er ist nur noch wenige Zentimeter von mir entfernt, streckt vorsichtig seine Hand nach mir aus. Wieder will ich zurückweichen, doch diesmal ist er schneller. Er rutscht nach vorne, sein Arm greift um meine unverletzte Schulter und zieht mich an sich heran. Mein Kopf kippt nach vorne, er legt seine andere Hand auf meinen Hinterkopf. Sein Hände brennen auf meiner ausgekühlten Haut und nur sein Griff verhindert, dass ich zu Boden sinke.

Die Glühwürmchen führen ihren letzten Tanz auf.

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