Kapitel 90. Muttermord

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Als Falc am vierten Prozesstag im Zeugenstand Platz nimmt, habe ich seit fünf Tagen vielleicht drei Stunden geschlafen. Der Kaffee in meinem Magen zwingt mein Herz in einen galoppierenden Rhythmus, der mich schwindlig werden lässt.

Ich sehe auf, als Danny sanft meine Schulter drückt. Eigentlich unnötigerweise, ich weiss ohnehin, was zu tun ist. Aufstehen, als die Richter und Schöffen in ihren Roben nach ihrer Mittagspause eintreten. Hinsetzen, als die Vorsitzende es dem Raum erlaubt. Falc sieht mich einen Moment lang an, als sich alle Stühle im Raum gleichzeitig zurückgeschoben werden. Er sieht besorgt aus. Ich kann mir vorstellen warum, schliesslich habe ich heute Morgen selbst mein Spiegelbild gesehen. Selbst die frisch gewaschenen Haare, in die Gloria beim Frühstück Lockencreme eingeschmiert hat, täuschen nicht über mein übermüdetes Gesicht hinweg. 

Ich schaffe es nicht, mich ganz auf Falcs Antworten zu konzentrieren, als er die üblichen Standardfragen zu Meldeadresse und Beruf beantwortet. Im Vergleich zu den meisten Zeugen, die ich bis jetzt gesehen habe, ist ihm auch deutlich anzumerken, dass das nicht sein erstes Mal vor Gericht ist. Seine Aussagen sind klar formuliert, seine Miene entspannt und das "Euer Ehren" sitzt perfekt.

"Herr Falc, Sie haben Andreas Stern am 23. November ein erstes Mal vernommen. Ist das korrekt?"

"Das ist korrekt", erwidert der Kommissar mit einem Blick zu mir. Er ist der letzte Zeuge.

"Was war Ihr Eindruck von Herr Sterns Zustand zu diesem Zeitpunkt?"

Falc nutzt viele Adjektive. Benommen, sagt er, nach der OP. Kohärent. Erschöpft. Verstört. Ich stütze den Kopf auf einer Handfläche ab und beisse auf die Innenseite meiner Wange, um nicht versehentlich einzuschlafen. Er redet über die Aussagen, die ich im Verhör getroffen habe. Nichts  Neues, denke ich müde. Dieser Prozess dreht sich im Kreis, immer wieder und wieder.

"Was war Ihr erster Eindruck nach dieser Vernehmung, - hielten Sie Herr Stern für schuldig?"

"Ich hielt ihn damals für unschuldig und tue es immer noch", erwidert Falc knapp.

"Wie kommen Sie zu dieser Annahme, Herr Falc?"

Ich zucke zusammen, als er beginnt, über Forensik zu sprechen. Über den richtigen Winkel von Blutstropfen auf meinen Schuhen, meinem Schuh, denn da war nur noch einer. Über fehlende Haut unter Fingernägeln und fehlende Kratzspuren an meinen Armen. Über Geschlechtsverkehr vor dem Tod. Danny drückt meine Hand fest. 

Falc sieht mich an, als ich huste, um nicht würgen zu müssen. Kurz sieht es so aus, als ob er zögern würde.

"Abgesehen von der wissenschaftlichen Beweislage und den stimmigen Aussagen aus mehr als einem Dutzend Vernehmungen habe ich viel Zeit mit Herr Stern verbracht und ihn entsprechend in vielen Situationen erlebt. Im Einklang mit der rechtspsychologischen Beurteilung sehe ich ihn ebenso nicht in der Lage, die Tat begangen und anschliessend verleugnet zu haben."

"Herr Falc, wen ich das Protokoll betrachte, haben Sie Herrn Stern während seines Krankenhausaufenthalts trotzdem lange kaum Zugeständnisse gemacht. Woran liegt das?"

Falc nickt einmal.

"Das stimmt. Mein Vorgehen hat aber in Herr Sterns Fall nie etwas mit Flucht- oder Verdunklungsgefahr zutun gehabt, sondern mit Eigenschutz. Herr Stern war erkennbar verzweifelt und es war nicht auszuschliessen, dass er erneut einen Suizidversuch unternehmen würde. Ich habe mehrere Versuche unternommen, ihn auf die psychiatrische Station verlegen zu lassen, aber das war zu diesem Zeitpunkt medizinisch nicht indiziert."

"Hat Herr Stern während seines Krankenhausaufenthalts oder danach einen Suizidversuch unternommen?"

Falc sieht mich an. Ich weiss genau, woran er gerade denkt. An den Fahrstuhl, meine Hand an seiner Waffe, während er bewusstlos in der Ecke lag. "Nein, hat er nicht", antwortet er ruhig. "Entsprechend habe ich die Massnahmen auch beendet, besonders nach dem sich Herr Stern das Handgelenk gebrochen hat."

SchattenfallWo Geschichten leben. Entdecke jetzt