Kapitel 5.

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Die Übelkeit ist noch viel schlimmer als zuvor und nur dank dem Gedanken, dass das wohl meine letzte Chance auf ein Ende sein wird, beginne ich nicht zu würgen. Doch die Schmerzen sind wie wegradiert, alles wirkt hell und leicht, beinahe, als würde ich schweben. Nur mein Sportlehrer zerstört diese Idylle etwas, indem er mich energisch an der Schulter gepackt aus der Toilette zerrt und nebenbei über mein Fehlen schimpft.

"Sie waren schon bei der Hälfte meiner Lektionen abwesend und dann, wenn Sie schonmal hier sind, ist Ihnen zufällig übel?", keift er, während er mit langen Schritten auf die grosse Treppe zueilt.

"Nicht zufällig", murmle ich. "Glauben Sie mir, es wird mir in Zukunft nicht mehr in einer einzigen Sportlektion schlecht sein", versuche ich mich selbst etwas aufzumuntern, doch es gelingt mir nicht. 

Stattdessen nehme ich mit einem Hauch von Panik wahr, wie sich meine Sicht zunehmend verschlechtert. Alles wird dunstig und jedes einzelne Geräusch klingt wie aus weiter Ferne zu mir. Ich spüre, wie meine Beine unter mir einzuknicken beginnen, ich kann mich nicht mehr halten. Alles wird immer mehr und mehr in einen riesigen Strudel gerissen, eine heftige Flut die mich mit sich reisst. Noch kurz erkenne ich vor mir den schwarzen Stein der Treppenstufe, dann rutscht mein Fuss auf der glatten Kante aus, Pixel füllen mein Gesichtsfeld und ein seltsames Rauschen tobt in mir, als ich haltlos nach vorne kippe.

Der Aufprall schmerzt nicht. Nicht mehr. Da ist nur kalter Stein und nasses warmes Blut, das den Boden unter meinem Kinn rot färbt. Immer mehr und mehr. Alles scheint sich wie in Zeitlupe zu bewegen, das Blut, der Schrei, der langsam an der Wand verhallt und das Echo der Schritte. 

"Steh auf Junge. Komm schon, so schlimm kann's nicht sein!", redet der Turnlehrer auf mich ein. Es klingt beinahe flehentlich. Aber ich kann nicht, auch wenn ich wollte. Mein Körper gehorcht mir nicht mehr, nur noch dem Schnee, der mich immer tiefer und tiefer sinken lässt. 

Schritte und Stimmen sind überall. Sie stehen alle um mich herum, Hände, die nach mir greifen. Ein paar bekannte Gesichter. Die Französichlehrerin. Lars. 

Ich schliesse die Augen. Will sie nicht sehen. Will diese Welt nicht mehr sehen. Will einschlafen.


Julia Mertens P.o.V

Niemand hat sich die Mühe gemacht den Jungen auch nur in die Erste-Hilfe-Position zu drehen, stattdessen stehen sie nun tatenlos um ihn herum. Wie feige.

Hastig bahne ich mir einen Weg durch die Schüler und knie mich neben ihn. Sein Kopf ist zum Boden hin gekippt und eine Lache aus Blut hat sich unter seiner Wange gebildet. Sein Bein ist in einer unnatürlichen Position vom Bein abgeknickt und ein blutiger Fleck hat sich auf seiner Jeans gebildet. Die sichtbare Hälfte seines Gesichts ist totenbleich und übersät mit dunklen Hämatomen. Blut fliesst aus einer Platzwunde in den dunklen Locken und hinterlässt hellrote Schlieren auf seiner Haut.

"Hey, kannst du mich hören?", spreche ich den Jungen an und tätschle behutsam seine Wange. Er zuckt schwach zurück, doch seine Augen bleiben geschlossen. Sein Brustkorb hebt und senkt sich sichtbar und auch, als ich nach seinem Puls taste, spüre ich ihn einigermassen regelmäßig an seinem Handgelenk.

"Wie heisst er?", höre ich einen der Sanitäter, Franco, fragen und sehe ihn aus dem Augenwinkel neben dem am nächsten Stehenden, einem älteren Mann in Turnhose und T-Shirt, der etwas betroffen dreinblickt. 

"Andreas Stern", kommt die Antwort knapp und etwas ängstlich.

"Wie alt ist er?", versucht er noch etwas mehr aus ihm herauszubekommen.

"Keine Ahnung, ich bin ja nicht sein Vater!", antwortet er abweisend und blickt wieder auf seine Zehenspitzen. 

"Wissen Sie was passiert ist?"

SchattenfallWo Geschichten leben. Entdecke jetzt