Kapitel 34. Spottgedanken

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Als wir die Station wieder betreten, steht der Arzt von gestern bereits vor der Tür. Mit beiden Ellbogen auf einen der monströsen fahrbaren Dokumentwagen gestützt, scheint er in eine angeregte Diskussion mit seinen Kollegen verwickelt zu sein.

Aaron räuspert sich laut und die weissgekleideten Personen drehen rasch den Kopf in unsere Richtung. Fünf Paar Augen mustern mich interessiert. Ich versuche mir vorzustellen, was sie da sehen – das bleiche Gesicht, das mich heute morgen im Spiegel angestarrt hat, die ungekämmten Locken, die dunklen Augenringe und die vor Trockenheit aufgerissenen Lippen. Oder nur meinen schmalen, an einen durchsichtigen Plastikbeutel angeschlossenen und zusammengenähten Körper, der von einem Polizisten gestützt wird. 

"Ah, Herr Stern, wie ich sehe, geht es Ihnen nach der gestrigen Nacht wieder etwas besser!", begrüsst mich der Oberarzt, oder Chefarzt, oder was auch immer seine genaue Berufsbezeichnung ist. Sein automatisches Lächeln erreicht seine Augen nicht.

Schulterzuckend versuche ich den ganzen unangenehmen Blicken auszuweichen und klammere mich an die Stange meines Infusionsständers. Das Metall ist durch die kühle Morgenluft eiskalt geworden und als ich es berühre, kann ich ein Zittern nicht unterdrücken. Meine Finger brennen vor Kälte. 

"Haben Sie jetzt Zeit für die Visite?", fragt der grauhaarige Arzt dann weiter und wirft Aaron einen fragenden Blick zu. Aaron, nicht mir. Der Polizist nickt, ohne mich anzuschauen.

"Gut, dann komme ich gleich", meint der Mediziner und schiebt das Drahtgestell seiner Brille mit einem Finger zurück. Ich habe das Gefühl, dass meine Kopfschmerzen sich bei diesem Anblick verdoppeln.

"Komm", spricht mich Aaron leise an und legt eine Hand auf meine Schulter.

"Die Visite dauert nicht lang, danach hast du deine Ruhe." Er öffnet mit der freien Hand die Tür und folgt mir, ähnlich eines zweitens Schattens, ins Zimmer.

"Hi", begrüsst mich Nick und schenkt mir ein strahlendes Lächeln. Er scheint immer genug Energie dafür zu haben, freundlich und geradezu strahlend vor Charme zu sein.

"Hi", antworte ich ihm ebenso einsilbig und versuche meine schmerzenden Lippen zu einer freundlichen Grimasse zu verziehen. Auch Aaron nickt meinem Zimmernachbar freundlich zu, nachdem er auf seinem altbekannten Stuhl platzgenommen hat. 

Ich und Nick sollten reden. Wir hätten so viel zu bereden.

Es dauert nur wenige Minuten bis die kleine Gefolgschaft von Ärzten mit wehenden Kitteln ins Zimmer tritt und sich rund um mein Bett versammelt. Aaron rückt seinen Stuhl noch näher heran, sodass seine Hand nur wenige Zentimeter von meinem Arm entfernt liegt. 

"So, Herr Stern, leider ist Ihre Temperatur ja nicht wie erhofft gesunken. Sie hatten heute Nacht sehr starkes Fieber. Und dann haben Sie uns noch einen ziemlichen Schrecken eingejagt, als Sie plötzlich keine Luft mehr bekamen."

"Habe ich?", unterbreche ihn erstaunt und werfe Aaron einen bestürzten Blick zu. Warum hat er mir das nicht gesagt?

Doktor Rodenkamp, so glaube ich mich jedenfalls zu erinnern, nickt bedeutsam. Seine Kollegen lächeln mich wohlwollend an.

"Aber heute Morgen geht es Ihnen ja schon bedeutend besser, nicht wahr?"

"Ja, mir geht's wunderbar. Ich könnte Luftsprünge aus dem Fenster machen vor Freude!"

Das aufgesetzte Lächeln tropft von seinem Gesicht. Es wird deutlich stiller im Raum. Meine Aussage ist zumindest bei einigen angekommen. Aarons Finger krampfen sich hart um mein Handgelenk. Hör auf, formen seine Lippen.

"Wieso? Ich meine das todernst." 

Aaron massiert sich das Nasenbein. Dr. Rodenkamp wirkt peinlich berührt.

SchattenfallWo Geschichten leben. Entdecke jetzt