Kapitel 12.

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"Ich rufe schnell meine Kollegen, dann bringen wir dich ins Klinikum.", sagt er und das genervte Lächeln wird wieder von einer distanziert-professionellen Maske abgelöst.

"Ich muss nicht in die Klinik. Ich habe bestimmt keine Gehirnerschütterung. Mir geht es gut.", antworte ich, während ich mich aufzurichten versuche, was der Sanitäter mit einem bestimmten Druck gegen meinen Brustkorb verhindert.

"Es geht dir also gut", konstatiert er ruhig, während er sein Funkgerät aus dem Gurt herauszieht und mich dabei keine Sekunde aus den Augen lässt. Blind tippt er drauf ein und fordert mit ein paar trockenen Worten seinen Kollegen auf, weitere Sanitäter zu alarmieren.

"Verhältnismässig", murmle ich und starre auf den Boden, wo die Blutflecken langsam zu brauen Krusten trocknen.

"Weshalb bist du hier?", fragt er dann und starrt mich dabei so angespannt an, das ich das Gefühl bekomme, er erwartet, dass ich ihn jeden Moment anspringe.

"Suizidversuch. Depression sagen sie." Ein ironisches schiefes Lächeln zieht sich über mein Gesicht, was mir eine weitere Kopfwehwelle einbringt und mich schmerzlich zurückzucken lässt.

"Eine Depression?", antwortet er beinahe erleichtert, wirkt aber so, als ob er mir das immer noch nicht abkauft. Vermutlich hat er immer noch das Gefühl, ich sei eventuell ein Psychopath.

"Ja, eine Depression. Aber um ehrlich zu sein, daran liegt es nicht, das ich mich umbringen wollte", sage ich und verrate ihm damit viel zu viel. Aber ich will dass er mir glaubt, das er mich nicht nur als Zwangseingelieferten in der Psychiatrie sieht, wenigstens nicht mehr als Psychopath.

"Sondern?", fragt er und wirkt noch viel angespannter als vorhin. Jede Faser scheint sich in ihm zu spannen, die Adern am Hals pulsieren und seine dunklen Augen bohren sich in meine, nur ein nervöses Zwinkern unterbricht den Blickkontakt.

"Ich wollte mich umbringen, um niemandem mehr zur Last zu fallen. Und ich bin feige. Ich konnte all das nicht mehr."

"Was konntest du nicht mehr?"

"Leben. Nicht so."

Er sieht mich verwirrt an und sein fragender Blick spricht Bände. "Wieso erzählst du mir das?"

"Ich will, dass sie mich als Mensch sehen."

"Das tue ich doch." Ein verzweifelter Unterton schwingt in seiner Stimme mit, während er nervös auf seine Uhr schielt.

"Nein."

"Weshalb wolltest du dich umbringen?"

"Das habe ich ihnen doch bereits gesagt."

"Ich sollte dir jetzt wirklich den Stifneck anlegen und dich fertig untersuchen.", meint er und beginnt hinter sich nach dem Gerät zu tasten, bis er zu bemerken scheint, das bis auf seine Jacke, die auf dem blutigen Boden liegt, nichts mehr im Zimmer ist.

Etwas panisch schaut er auf und scheint erst jetzt zu bemerken, dass er völlig allein ist. Und er scheint das genauso beängstigend wie ich zu finden.

"Ich wurde geschlagen.", durchbreche ich müde die eiserne Stille.

Hastig blickt er auf und wieder treffen sich unsere Blicke. Nun schüttelt er schwach den Kopf.

"Von wem? Von deinem Vater?"

"Mein Vater ist abgehauen als ich sechs war.", antworte ich knapp und nun will mich erneut aufrichten, doch wiederum drückt mich der Sanitäter nieder.

"Sie werden gleich da sein", sagt er und schaut erneut unsicher in Richtung des Flurs, wo immer noch kein Mensch zu sehen ist.

"Bitte, lassen Sie mich wenigstens aufsitzen. Ich fühle mich wirklich unwohl."

"Tut mir leid, aber das könnte nicht gut für dich sein", meint er, doch lockert gleichzeitig den Griff soweit, das ich mich aufsetzen kann. Er hebt die Hand, doch als ich ruckartig zusammenzucke, lässt er sie wieder sinken und ich setze mich ohne weiteren Einwand auf.

"Deine Mutter?", fragt er dann und trotz des sachlichen Tonfalls in seiner Stimme, schwingt etwas mehr Wärme mit als zuvor.

"Nein, nicht oft jedenfalls."

"Nicht oft? Was soll das heissen?"

"Heroin. Sie nahm Heroin. Und wenn sie's nicht bekam, dann..." Ich zuckte mit den Schultern und schaue peinlich berührt auf meine Füsse.

"Hast du Geschwister?"

"Nicht mehr. Mein Bruder ist vor zehn Jahren gestorben."

"Als du sechs warst."

"Genau."

"Was ist passiert?"

"Ein Raser. Er ist einfach weitergefahren."

Er nickt betroffen, beisst sich auf die Unterlippe. Dann plötzlich, fährt er fort.

"Deine Mutter hat einen neuen Freund, nicht wahr?"

Ich schaue betreten auf den Boden, kralle mir die Fingernägel in die Handflächen. Eigentlich war es klar, dass es darauf hinauslaufen würde. Es ist so naheliegend, doch ohne Beweise konnte man nichts dagegen tun. Besser so.

Ich blicke wieder auf und treffe genau auf seinen. Merkwürdig. Seine Augen sind braun. Und blau. Dunkelbraun mit blauen Sprenkeln. Irre.

"Versprechen Sie mir, dass sie es niemandem sagen? Niemand...ich...das...es ist nicht gut...wenn..."

"Ich werde niemandem etwas erzählen. Jedenfalls nicht bis ich sicher bin, dass du dabei nicht zu Schaden kommst."

Ich nicke schwach und stütze meine Stirn auf meinen Händen ab. Blicke durch die Finger auf den Boden. 

"Dein Bruder, wie alt war er als er starb?"

"Sechs, wir waren Zwillinge. Ich wurde damals nur leicht verletzt, als ich ohnmächtig wurde. Ich hatte eine Amnesie, ich konnte mich an nichts erinnern. Bis heute, als ich Jonas da..."

Er unterbricht mein zauderndes Stottern und nickt, einmal, zweimal. Sein Blick heftet sich auf meinen Kopf, er kaut auf seiner Unterlippe herum. Ein einzelner winziger Blutstropfen löst sich von ihr, rollt über die sanfte Wölbung der Lippe, bis seine Zunge ihn rasch auffängt. 

"Es ist zurückgekommen, nicht wahr? Die Erinnerung durch den Schock."

Ich löse meine Stirn von meinen Handflächen, stütze stattdessen das Kinn darauf. Begegne seinem forschenden Blick.

"Ja genau..."

Im selben Moment erklingen laute rasche Schritte im Flur, dann tritt eine Frau in weissem Kittel in den Raum. 

"Andreas! Gottseidank, wir dachten die Rettung hätte dich mitgenommen, bis sie plötzlich mittendrin auftauchte und nach dir fragte. Es tut mir so leid, wir sind gerade wirklich im Chaos!", keucht Dr. Martinson erschreckt, die dunklen Haare hängen in feuchten Strähnen in ihr Gesicht, die grüngrauen wimpernumrahmten Augen sind tränenverschmiert. Sie scheint sich all das überhaupt nicht gewohnt zu sein.

"Bist du verletzt?", ruft sie erschrocken aus, als sie den Sanitäter zu meinen Füssen und das Blut an meinen Fingern entdeckt. 

"Bin gegen das Bettgestell geknallt. Tut mir leid,", murmle ich mit einem schiefen Lächeln im Gesicht, während der Sanitäter mich sanft aber sehr nachdrücklich zurück in die Kissen drückt. 

"Könnte ich Sie bitte einmal schnell sprechen? Alleine meine ich?", spricht er die Ärztin, mit einem vielsagenden Blick auf mich, an. 



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