Es trifft mich mit einer Wucht, dass ich die Kälte erst nicht spüre. Da sind nur wirbelnde dunkle Wassermassen und ein Gefühl, von eisiger Willenlosigkeit, als ob ich nun nichts mehr auf dieser Welt zu tun hätte. Ein brennender Schmerz fährt durch meinen Kopf und ich sehe, wie eine dunkle Wolke aus Blut um mich herum aufstiebt. Beinahe ist es schön zu wissen, dass nun gleich alles vorbeisein wird.
Doch dann kommt die Panik. Meine Lungen schreien nach Luft, der Überlebensinstinkt will mich an die Oberfläche treiben. Doch auch wenn ich wollen würde, es ist bereits zu spät. Mein Körper gehorcht mir nicht und auch das letzte Restchen meines Bewusstsein wehrt sich gegen das Leben. Dann verschwindet auch der letzte Widerstand und ich spüre, wie ich ruhig werde. Wie kleine Funken wirbeln Luftblasen an mir vorbei, vermischt mit aufgewirbeltem Sand.
Endlich ist diese Hölle zu Ende, flackert es durch meinen Kopf, als die Dunkelheit auf mich zu kriecht.
Ein fester Griff um meinen Arm. Jemand hebt mich hoch, zerrt mich zur Oberfläche. Die Kälte umhüllt mich, wie eine Wolke, als mein Gesicht aus dem Wasser auftaucht. Verzweifelt versuche ich mit letzter Kraft den Atem anzuhalten, doch der Instinkt ist stärker als ich und ich schnappe heftig nach Luft.
Mein Körper beginnt beinahe auf die Sekunde zu zittern, als ich die kalte Erde berühre und wie im Krampf zucke ich hin und her. Dann irgendwann scheine ich sogar dafür zu schwach zu sein und bleibe regungslos liegen.
Jemand dreht mich auf die Seite und wischt mir die langen, nassen Haarsträhnen aus dem Gesicht. "Ruhig, Andreas, ruhig atmen", höre ich die Stimme direkt über mir sagen. Langsam kehren meine Kräfte zurück und ich schaffe es mich mühsam aufzurichten, beuge mich zitternd nach vorne und würge heftig. Galle, ist das einzige was dabei rauskommt.
Die ganze Zeit über liegt eine warme Hand auf meiner Schulter, sie erscheint mir beinahe heiss auf der ausgekühlten Haut. Ich würge immer weiter, obwohl nichts mehr kommt. Nur damit ich nicht reden, ihn überhaupt ansehen muss.
Ich habe es nicht einmal fertiggebracht mich umzubringen.
"Andreas, schau mich bitte an", redet der Polizist nun auf mich ein, doch ich rühre mich nicht.
"Andreas." Vorsichtig packt er mein Kinn und dreht es in seine Richtung, was mich dazu zwingt, ihm direkt ins Gesicht zu schauen. Ich spüre wie heisse Tränen aus Scham und Wut auf mich selbst meine Wangen hinunterfliessen, ohne dass ich es verhindern kann.
Die blauen Augen des Polizisten mustern mich sanft und immer noch drückt er beruhigend meine Schulter. Nun kann ich die Verzweiflung nicht mehr halten und ich weine. Nicht aus Trauer darüber, dass ich überlebt habe, sondern aus Scham, dass ich es nicht geschafft habe, aus Wut auf diejenigen, die mich rausgeholt haben und aus grenzenloser Angst vor der Zukunft.
"Wir schaffen das Andreas, verstehst du? Wir helfen dir, alles wird gut", versucht er es weiterhin und drückt mich sanft gegen sich. Widerstandslos lasse ich mich gegen ihn fallen, denn ansonsten, würde ich zu Boden gehen.
Am liebsten würde ich ihn anbrüllen. Schreien, dass nichts gut werden wird und dass sie sich doch bisher einen Dreck um mich geschert haben, -sie hatten mich im Stich gelassen, auch wenn ich fliehend vor Tom zu ihnen geflüchtet war. Und ich werde es nicht mehr schaffen, mir fehlt schlichtwegs die Kraft dazu.
Irgendwann kommen keine Tränen mehr und ich richte mich hastig auf. Der Blick beider Polizisten ruht auf mir, als würden sie erwarten, dass ich etwas sage, doch ich schweige eisern.
"Wir sollten dir wenigstens das nasse T-Shirt ausziehen. Es ist ohnehin schon kalt genug", sagt der Polizist der mich immer noch an meiner Schulter festhält, als würde er fürchten, dass ich doch noch davonfliege.
"Es ist auch kalt ohne T-Shirt", murmle ich schwach. Auf diesen kleinen Unterschied würde es sowieso nicht ankommen, ausserdem hatte ich wirklich keinen Bock drauf, dass sie die blauen Flecken sehen würden. Es würde Mutter nicht helfen.
"Ich würde dir die Jacke geben", antwortet der Polizist, der mir gegenüber kniet.
Widerwillig streife ich mir das nasse T-Shirt über den Kopf und greife schnell nach der Polizeijacke. Besser so, als dass sie misstrauisch werden. Ausserdem verdeckte die Rötung vom Sprung ins Wasser sowieso gerade das Meiste.
"Kannst du uns jetzt deinen Nachnamen sagen?"
Ich zögere mit der Antwort und als laute Sirenen in der Nähe zu hören sind, bleibt die Frage in der Luft hängen.
"Paul, ich geh die Kollegen holen, pass du auf den Jungen auf", weist der Mann, der meine Schulter festhält, den anderen Polizisten an, der sich gerade seine durchnässte Jacke auszieht an. Er scheint den Sprung besser als ich verkraftet zu haben, doch auch er ist sehr blass.
Er sieht nicht so aus, als könnte er jemanden festhalten, der vor ihm wegrennt. Auch wenn ich sehr erschöpft bin, könnte ich ihn abhängen. Drei, vier Meter Vorsprung für mich, unter der Annahme, dass er zwar ein guter Läufer ist, aber schwere nasse Kleidung trägt und mitgenommen ist.
Könnte bei einem guten Lauf klappen, solange ich dem anderen Polizisten und seinen Kollegen nicht direkt in die Arme laufe.
Aber wo sollte ich hin gehen? Nachhause sicher nicht. Zur Schule? Nein, ich würde mir eine andere Methode suchen müssen, um endlich den Schlussstrich ziehen zu können.
Aber jetzt ist der perfekte Moment dazu. Langsam setzte ich mich etwas aufrechter hin, damit der Blutkreislauf nicht gleich zusammenbricht, dann, als der Mann für einen Moment nicht hinsieht, stehe ich langsam auf und sprinte los.
Ich drehe mich nicht mehr um, um zu schauen ob mir jemand folgt, doch die Rufe hinter mir sind deutlich genug. Laute Schritte folgen mir über die Brücke und als ich die ersten Häuser erreiche, heulen bereits die Sirenen des Polizeiautos auf. Meine Lungen brennen und ein stechender Schmerz in meiner Seite, macht mir das Rennen, nach wenigen Minuten, beinahe unmöglich. Ich würde den Beamten in einer der Seitenstrassen abhängen müssen, doch wer sagt mir, dass er das Quartier nicht ebenso gut wie ich kennt. Ich hetze um eine Hausecke und erkenne, wie eine Frau gerade durch eine Tür in ein Haus tritt. Wenn ich diese Tür noch erwischen kann, würde ich mich vor dem Polizisten verstecken können.
Mit einem letzten Kraftaufwand stürze ich auf die Tür zu und zwänge mich hindurch, bevor sie sich vollständig schliesst, dann renne ich geduckt weiter die Treppe hinab, in der Hoffnung, dass es hier vielleicht einen Versteckort für mich gibt.
Die Schritte des Polizisten verhallen draussen zwischen den steilen Hauswänden, als er weiter rennt.
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Schattenfall
Teen FictionDrogen in der Keksdose, blaue Flecken von Mamas Liebhaber, blutige Zähne und schlechte Noten in der Schule. Andreas hält nicht viel von seinem Leben. Aber sterben scheint schwieriger zu sein, als gedacht. Besonders als Nick zum ersten Mal sein trist...