Kapitel 4. Schnee

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"Sie kommen auch wieder einmal zu Besuch, Herr Stern? Was für eine Ehre!", spottet meine Französischlehrerin mit hasserfülltem Blick. Nichts an ihr lässt noch ahnen, dass ich einmal ihr Lieblingsschüler war. 

Zeiten ändern sich schnell. 

Ich war anfangs immer ein guter Schüler gewesen und hatte all meine Zeit ins Lernen gesteckt. Die Schule war für mich alles gewesen, Zuhause, Erfolg und Anerkennung. Vielleicht um zeigen zu können, dass mir wenigstens irgendetwas gelang. Bis ich begriffen hatte, dass auch das mir von meiner Mutter keine Anerkennung entgegenbringen würde und bis das Mobbing begann. 

"Nun, da Sie genug Zeit zum Lernen hatten, können Sie bestimmt die Nachprüfung einwandfrei lösen, nicht wahr?", fährt Frau Leiser mit schneidender Stimme fort, während sie ihr dünnes Brillengestell wieder nach hinten schiebt und mit drohender Miene auf mich zugeht.

"Nein", murmle ich schwach und spüre, wie das schreckliche Gefühl, einen schweren Fehler begangen zu haben, in mir hochkriecht. Wieso wollte ich mir das unbedingt antun? Nur noch mehr Schmerzen und Hass. 

Ein lebendiger Suizid, vor dem eigentlichen. 

"Nein? Was haben Sie denn in diesen Tagen getan? Hatten Sie etwa einen Kater?"

"Nein."

"Antworten Sie mir gefälligst in anständigen Sätzen!"

"Ich habe nicht gelernt und ich hatte auch keinen Kater."

"Was dann?"

Ich antworte nicht, starre nur stumm auf den zerkratzten Pult vor mir. Verschwinden wäre jetzt meine Erlösung. Einfach verschwinden. 

"Wo sind ihre Schulsachen?"

"Im Spind", antworte ich tonlos. Waren sie jedenfalls, füge ich in Gedanken hinzu.

"Gehen Sie sie holen!"

Langsam stehe ich auf und erst jetzt spüre ich den brennenden Schmerz in meinem Oberkörper. Es fühlt sich an, als würde sich jemand mit scharfen Krallen tief in meine Haut bohren. Atemlos keuche ich auf und schnappe nervös nach Luft. Ich darf mir nichts anmerken lassen, alles ist gut, alles ist gut, rede ich mir kontinuierlich ein und stolpere, die Finger fest in das Holz der Schreibtische gekrallt, Richtung Tür. 

Ein kalter Blitz aus Panik rast durch meinen Bauch, als ich gegen etwas Hartes am Boden stosse und spüre, wie ich haltlos gegen vorne falle. Der Aufprall schmerzt, aber der Schock ist noch viel schlimmer. Ich spüre, wie mich ein kalter Hauch zum Zittern bringt, dann schiesst mir Galle den Hals hinauf. Ich schaffe es gerade noch bis zum Mülleimer bevor ich mich übergeben muss und so, zusammengekauert auf dem kalten Linoleum verharre ich, bis ich merke, das die Übelkeit nicht besser werden wird. 

Mühsam rapple ich mich auf, versuche das höhnische Gelächter meiner Klasse zu ignorieren und stolpere um Luft ringend auf den Flur hinaus. Erst jetzt spüre ich, wie sehr mir der Sprung wirklich zugesetzt hat. Jede einzelne meiner Rippen scheint sich tief in mein Fleisch zu graben, meine Lungen brennen wie Feuer und überall wabert der metallene Gestank nach Blut und Erbrochenem herum. Als ich es endlich in die Toilette geschafft habe, hält mich mein Körper nicht mehr. Haltlos stürze ich wieder auf den nassen Boden und bleibe liegen. Ich bleibe einfach liegen, mitten in der ekelhaften Pfütze aus Wasser und Blut, das langsam aus der Wunde an meinem Kopf tropft. Dort wo der Schmerz meine Sinne gerade auszublenden versucht.

Nach langen Minuten gelingt es mir wieder aufzustehen und ich wanke halbblind vor Schmerz zum Waschbecken. Mein Spiegelbild grinst mich wie eine starre Maske aus dem Glas an. Dunkel unterlaufene Augen, ein grosser blauer Fleck auf meiner Wange, ein dunkelrotes Rinnsal fliesst aus den blutverklebten Haaren. Eine schreckliche Müdigkeit überkommt mich, als ich mich selbst im Spiegel sehe. Es gibt nichts mehr in dieser Welt zu holen, nicht in diesem Leben jedenfalls, zuckt es durch meinen Kopf. Die Hoffnung stirbt zuletzt. Ha ha ha.

Das kühle Wasser lindert den Schmerz etwas, als ich mit einem Papiertuch über mein Gesicht wische, doch dabei verschmiere ich das Blut nur noch mehr. Mit zitternden Fingern greife ich nach dem Plastiksack in dem das drin ist, was mein Leben endlich beenden könnte, doch irgendjemand kommt mir zuvor. Die Tür springt mit einem lauten Quietschen auf und auch durch den dunklen Nebel, der mich zu umgeben scheint, erkenne ich darin meine Klassenkameraden. 

"Na Andreas? Geht's dir schon wieder besser?", höre ich Lars' Stimme feixend hinter mir, gefolgt von hämischen Lachen. 

"Nein.", antworte ich knapp. "Es geht mir scheisse, zufrieden?"

"War wohl 'ne harte Nacht gestern. Oder soll ich besser heute Morgen sagen?", grinst er und scheint an seinem eigenen Witz beinahe zu verrecken. 

"Weder noch."

"Immer noch trocken? Hmm...vielleicht sollten wir dir nachhelfen...dann würdest du wenigstens nicht mehr solche Kopfschmerzen haben..."

Erst jetzt realisiere ich, dass ich mir die Hand fest an die Schläfe presse, als würde das den unerträglichen Schmerz bessern. Hastig lasse ich sie hinabgleiten und halte schützend beide Arme vor mich. Falsch. Völlig Falsch, begreife ich innerhalb von Sekunden. 

"Ach, du willst lieber prügeln? Wir stehen dir zu Diensten..."

Der erste Schlag bringt mich schon aus dem Gleichgewicht und ich stürze rücklings gegen die harte Kante des Waschbeckens. Nochmals und nochmals. Der Schmerz nimmt überhand. Und die Verzweiflung. 

Immer wieder sacke ich zur Seite, höre wie ein Echo das Lachen in meinem Ohr. Immer und immer wieder. Jemand schreit und ich erkenne, wie Lars nach hinten taumelt, doch im nächsten Moment explodiert in meiner Schläfe ein Stich durchfährt mein Gehirn und ich stürze. Kippe wieder zur Seite, kralle mich panisch ins glatte Porzellan des Waschbeckens und fühle meine Finger langsam abrutschen. 

Dann schlage ich auf den Boden auf. Sehe meine Hand hart auf die Fliesen treffen. Höre das Krachen von den Wänden zurückhallen.

Sie gehen wieder. Die Türe schlägt wie in Zeitlupe zu. Schwingt nochmals zurück. 

Mit den Fingern taste ich nach der Tasche und ziehe den Schnee heraus. Immer wieder rutsche ich an der glatten Oberfläche aus, doch dann öffnet sich der Verschluss. Unter Husten schütte ich das Pulver auf einmal in meinen Mund und schlucke es keuchend herunter. Dann die Flasche. Die Flüssigkeit brennt in meinem Rachen und beinahe spucke ich sie wieder aus, doch der Gedanke ans Weiterleben ist furchtbarer als dieser Fusel.

Bald spüre ich, wie das Heroin zu wirken beginnt, die Schmerzen dumpf und schwach werden. Ich werde einfach hier liegen bleiben, bis das Leben verschwinden würde. Hier in einer der kleinen Toilettenkabinen des Hildegard-von-Bingen-Gymnasiums. Ein lächerliches Ende.

"Stern, wenn Sie jetzt nicht in die Klasse kommen, rufe ich die Polizei. Sie sind schon viel zu lange da drin!", dröhnt es durch die Tür, als ob jemand meine Gedanken gelesen hätte. 

Und so kehre ich von den Toten zurück. Von den Halbtoten jedenfalls.


Morgen, meine Lieben,

Ich hätte eigentlich Mathe, aber da sowohl mein Mathelehrer, als auch sein Stellvertreter irgendwie nicht hier sind und ich dank der Deutschen Bahn (ich wusste gar nicht, das so viel Verspätung möglich ist) völlig übermüdet bin, veröffentliche ich das stattdessen.

Und was macht ihr gerade so? Bzw. falls ihr noch in der Schule seid, -was für ein Fach habt ihr am Freitagmorgen?

Liebe Grüsse, 

Hilda (und Kolmogorovs Axiome)

SchattenfallWo Geschichten leben. Entdecke jetzt