Meine Hand zittert, als ich an die mattgraue Tür des Lehrerzimmers klopfe. Einmal, zweimal, mehr macht meine Schulter nicht mit. Der Schmerz zieht wie ein glühender Blitz durch mein Gelenk bis hin zu meiner Handfläche, wo er sich brennend festsetzt.
"Ja?"
Der Mann, der die Tür öffnet, sieht mich verwundert an, als ich mit verbissener Miene meinen Arm fest an meine Brust presse, um die Schmerzen zu lindern. Er ist kaum älter als ich, etwas über zwanzig, mit dunkelblondem Haar und einer kleinen silbernen Kette mit Kreuz um den Hals.
"Ich...soll wegen einer Dispens zu Ihnen kommen", sage ich knapp, die Worte verkleben in meinem Rachen zu einer kaugummiartigen Masse. "Ich bin neu", füge ich dann hinzu, als ob das alles erklären würde. Für einen Moment sieht er mich perplex an, dann verzieht sich sein Mund zu einem schwachen Lächeln.
"Okay klar, komm doch rasch rein...äh...?"
"Andreas...Stern", murmle ich verlegen und schiele an ihm vorbei in den kleinen Raum, der von zwei alten Neonröhren in kaltes Licht getaucht wird. Das einzige Fenster im Raum öffnet sich nicht nach draussen, sondern direkt zur grossen Turnhalle, die einen Stock weiter unten liegt und aus der die dumpfen Aufpralle von Volleybällen zu hören sind. Ein schaler Geruch nach Desinfektionsmittel und altem Schweiss zieht aus dem Lehrerzimmer in den gebohnerten Flur hinaus. Ich muss unwillkürlich schaudern. Mir ist nicht ganz wohl. Vielleicht liegt es auch an meinen bisherigen hervorragenden Sportunterricht-Erfahrungen.
"Alles okay?", bemerkt der Lehrer. Er sieht ein wenig besorgt aus. Ich nicke rasch, strecke ihm den gelben Zettel entgegen, auf dem der nickelbebrillte Chefarzt seine krakelige Unterschrift hinterlassen hat. Er nimmt ihn an sich, ohne den Blick von mir zu nehmen.
"Ja, ich bin nur müde", rechtfertige ich mich matt. Er lächelt noch mal, ohne meinem Arztzeugnis auch nur einen Schimmer von Aufmerksamkeit zu widmen. Am liebsten würde ich mich umdrehen und wegrennen.
"Es ist ja auch schon fast acht Uhr. Wieso bist du noch hier?"
"Ich hatte Nachhilfe."
Für einen Moment scheint er etwas mehr sagen zu wollen, aber schliesslich zuckt er bloss mit der Augenbraue und sieht sich endlich das Papier in seinen Händen an.
"Muss wehgetan haben", sagt er, als er das Blatt sinken lässt. Ich nicke. Er fragt mich nicht, wie es dazu gekommen ist und dafür bin ich ihm ehrlich dankbar. Kurz mustert er mich neugierig.
"Ich nehme an, du bist das Lieblingsklatschthema der Lehrerschaft?"
Verlegen zucke ich mit den Schultern.
"Wahrscheinlich."
Garantiert. Der Rektor hat mich heute Morgen selbst als "Reintegrationsprojekt" bezeichnet, ein Novum für die Schule, auf das er natürlich stolz ist. Reintegration in die Gesellschaft, hat er gesagt. Er meint damit weg von versifften Wohnungen, Drogen, Kriminalität und schlechten Noten und sein Blick sagt mir, dass ich als armseliger Asozialer gefälligst dankbar für diese Chance sein sollte. Immerhin aufs Gymnasium hast du's ja geschafft, hat er gesagt, siehst du, du musst dich nur zusammenreissen. Ich hätte ihm am liebsten auf sein gelbes Polohemd gespuckt.
"Mach dir keinen Kopf, in einer Woche bist du schon vergessen", sagt der junge Sportlehrer aufmunternd und dann senkt er den Kopf, um sich mit Edding eine Notiz auf die Hand zu kritzeln.
"Du bist in Physiotherapie, oder?", fragt er, nachdem er den violetten Deckel schwungvoll wieder aufgesetzt hat. Ich nicke. Physiotherapie, Psychotherapie, alles, um mich wieder zusammenzukleben, gesellschaftstauglich genug zu machen, um im Schulflur nette Gespräche zu führen, ein nettes Abi zu schreiben, einen netten Job zu finden und meine nette Freundin zu küssen.
"Gut."
Er spricht das G wie ein J aus, zieht das Wort endlos lang, während er einen Blick auf die Uhr hinter mir wirft, eine Hand an seinem Kreuzanhänger. Er funkelt im kränklichen Turnhallenlicht.
"Machen wir's so: Du fragst nächstes Mal in der Physio, ob sie dir eine Liste mit sinnvollen Übungen schreiben können und bringst sie mir dann vorbei, einverstanden? Am besten bis nächste Woche, bis dahin musst du nicht in den Unterricht kommen."
Ich nicke wieder. Einfach den Blick senken und nicken. Neben mir höre ich ein Klirren, als er den Schlüssel im Schloss dreht und seine Sporttasche schultert. Für einen Moment zögert er, als ich mich nicht vom Fleck rühre.
"Schönen Abend", sagt er dann. Ich will antworten, aber mir ist plötzlich so furchtbar schwindelig, dass ich bloss nach der metallenen Stange des Treppengeländers hinter mir greife und ihm wortlos nachsehe. Er dreht sich noch zweimal nach mir um, bevor die Tür hinter ihm zufällt.
Mein Kopf fühlt sich wattig an, als ich das graue Steingebäude verlasse und die verregnete Strasse entlang gehe. Die späte Rache dafür, dass ich den ganzen Tag über nichts gegessen habe. Es ist einfacher, Chemienotizen durchzugehen und Formeln auf kariertes Papier zu schreiben, als mich zwischen die redenden, lachenden Menschen vor der Essensausgabe einzureihen, wo Nick makellos hineinpassen würde und Gloria ihr dichtes Haar zu drei Zöpfen flicht. Wasser reicht, bloss Wasser. Keine Geldverschwendung, keine Übelkeit, wenn der Teller vor mir endlich leer ist, keine Aufmerksamkeit, nur klares, kaltes Wasser.
Ich stehe minutenlang vor der Tür, bis ich mich dazu zwingen kann, den Schlüssel ins Schloss zu stecken und das Stück Metall hundertachtzig Grad nach rechts drehe. Mit einem scharrenden Geräusch öffnet sie sich ins Halbdunkel des Wohnzimmers und ich schlüpfe leise hinein.
"Was schleichst du hier so rum, Edward?"
Erschrocken zucke ich zurück, Arme augenblicklich vor meinem Gesicht, als ob mein Körper in jeder dunklen Ecke Tom erwarten würde.
"Fuck, bist du ein Schisser", sagt Gloria spöttisch. Ihre weissen Zähne glänzen im Dämmerlicht. Wortlos schiebe ich mich an ihr vorbei, um wenigsten einen Schritt näher an die rettende Sicherheit meines Zimmers zu kommen.
"Du bist übrigens zu spät fürs Essen", bemerkt sie geistreich und streicht sich den dichten Zopf zurück, der sich aus drei dünneren Exemplaren zusammensetzt. Ich nicke matt.
"Ich hatte Schule."
"Blöd. Hab vergessen, dass du noch kommst. Aber kannst ja selbst noch kochen."
Sie fegt an mir vorbei zur Abwaschmaschine, den schmutzigen Teller noch in der Hand, passend zu ihrem Namen, der mühelos in eine Unwetterwarnung passt. Ich nutze den Moment, in dem sie sich wegdreht, um das Geschirrstück einzuräumen, um die letzten zwei Schritte zu meinem Zimmer zu machen und leise die Tür hinter mir zuzuziehen.
Dieser Tag fühlt sich seltsam leer an. Im Dunklen sieht man nicht einmal Nicks orangene Blumen. Vielleicht besser so, ich habe auf seine drei Nachrichten ohnehin nicht geantwortet, nicht auf "sicher?", nicht auf "Tres", nicht auf das einsame Fragezeichen ganz unten in unserem gemeinsamen Chat. Mit einem Seufzen schalte ich das Licht ein und ziehe wieder die Notizen aus meiner Tasche. Vier dicht beschriebene Seiten Blockpapier mit Gleichungen und Variablen, Grammatik, noch mehr Formeln.
Mein Handy klingelt, bevor ich Seite drei erreicht habe, Falcs Name erscheint auf dem Bildschirm wie ein kleines böses Omen. Ich verhalte mich so, wie er nicht will, dass ich mich verhalte, wie er es hasst. Wie das unerzogene Kind, das ich nun mal bin.
Das Klingeln verstummt abrupt, als ich seinen Anruf wegdrücke.
Erster Schultag läuft schonmal gut.
Nächste Woche geht es hier wieder weiter.
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Schattenfall
Teen FictionDrogen in der Keksdose, blaue Flecken von Mamas Liebhaber, blutige Zähne und schlechte Noten in der Schule. Andreas hält nicht viel von seinem Leben. Aber sterben scheint schwieriger zu sein, als gedacht. Besonders als Nick zum ersten Mal sein trist...