Kapitel 42. Armageddon

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Der Regen prasselt hart gegen die Windschutzscheibe und färbt den Himmel dunkelgrau, nur die orangenen Lichter des Krankenhauses dringen durch das wässrige Armageddon und spiegeln sich im Glas des Autos. Es wirkt wie eine Szene aus einem Science-Fiction-Film, kurz bevor die Aliens landen und die Welt zerstören, wenn das feindliche UFO bereits einen dunklen Schatten über die Stadt wirft. Alles wirkt so unentrinnbar wie der Gang zu einer Hinrichtung – zu meiner eigenen Hinrichtung. 

Falc dreht sich zu mir um, die braunen Augen im Blaulicht eines vorbeifahrenden Krankenwagens flackernd. 

"Alles okay?"

Ich nicke stumm und drücke mich frierend noch ein weniger näher an die Fahrzeugtür. Es ist eisig kalt in diesem Auto, daran ändert auch die Heizung nichts, die Falc aufs Maximum aufgedreht hat. Vielleicht, nein, wahrscheinlich ist es einfach wieder das Fieber. Alles liegt nur am Fieber, die Apokalypse um uns herum, die Kälte, die Verzweiflung. Alles nur das Fieber.

"Ich gehe dir einen Rollstuhl holen", sagt der Kommissar. "Ich bin gleich wieder zurück, ja?"

Ein Schauer aus feinen Wassertropfen weht ins Innere des Autos, als er die Tür öffnet und auf seine vampirhaft elegante Art und Weise aus dem Wagen gleitet. Ein vergesslicher Vampir allerdings, denn ich höre kein Klicken, als er wehenden Mantels im Sturzregen verschwindet. Vielleicht hat er das Auto nicht abgeschlossen.

Versuchshalber lege ich eine Hand auf den Türöffner und drücke. Mein gebrochenes Handgelenk knickt schmerzhaft ein Stück nach innen, doch die Schiene und rauen Mengen an Schmerzmittel in meinem Blut verhindern Schlimmeres. Knirschend schwingt die Autotür auf und keine Sekunde später schlägt mir der Regen hart ins Gesicht und fegt mir die schweren Locken in die Stirn. Was tue ich hier eigentlich?

Kurz bleibt mir die Luft weg, als ich verunsichert einen Fuss aus dem Auto setze. Der silbrige Lack brennt kalt auf meiner Haut und die harten Regentropfen peitschen wie Eiskristalle gegen meinen frierenden Körper. Die orangenen Lichter mischen sich mit dem Heulen der Sirenen und blinkenden Signalen einer Ampel, alles dreht sich, ich drehe mich. Alles nur das Fieber, sage ich mir leise, doch der Wind schluckt meine Worte.

Ich lasse die Autotür los und taumle hinaus in den Regen. Ich bin ein Meister im Wegrennen, nur nicht einer im irgendwo Ankommen. Das ist nicht schlau, das ist ganz und gar nicht schlau. Falc wird mich finden und ich werde wegen eines jämmerlichen Fluchtversuchs noch mehr Probleme bekommen, als ich ohnehin schon habe. 

Na und? Du bist eh schon am Ende, es kann gar nicht mehr weh tun. Freedom's just another word for nothin' left to lose, jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, um mir diese Freiheit zu nehmen.

Ich sinke gegen das Mauerwerks des Krankenhauses und stütze mich keuchend am kalten Beton ab. Fuck, ich kriege keine Luft mehr, meine Beine knicken ein wie Zündhölzer. Regenwasser durchtränkt meine ohnehin schon feuchte Kleidung, als ich mich auf dem Boden zusammenkauere und dort sitzen bleibe. Es hat keinen Sinn aufzustehen, ich will nie wieder aufstehen.

Durch den Regen kommt eine schwarze, verhüllte Gestalt auf mich zu. Vielleicht kommt der Tod ja tatsächlich als Sensenmann. Vielleicht bin ich hier schon seit Stunden und mein Geist verlässt gerade meinen erfrorenen Körper, der blass und entseelt auf dem nassen Asphalt liegt. 

"Andreas."

Erschrocken fahre ich hoch und spüre im selben Moment eine heisse Hand auf meiner Wange. Ich muss nicht aufsehen, um zu wissen, dass sie Falc gehört. Er hat mich vor dem Sensenmann gefunden.

"Es tut mir leid, ich weiss nicht, was...", flüstere ich bebend, das Gesicht starr vor Kälte und Nässe. 

Falc sagt für einen Moment nichts, bevor er behutsam meine kalten Finger umschliesst. "Du scheinst es wirklich darauf anzulegen, zu erfrieren."

"Ich...wollte mich nicht umbringen, falls es das ist, was du meinst."

Der Kommissar betrachtet mich nachdenklich und schliesst dann für einen kurzen Moment die Augen.

"Okay."

Er seufzt.

"Lass uns reingehen, ich bin bis auf die Knochen nass."

Erschöpft lasse ich zu, dass er mich zu sich hochzieht und sinke wie ein nasser Lappen gegen seine Brust. "Was wirst du jetzt tun?", murmle ich abwesend und gebe es auf, das Zittern zu unterdrücken zu versuchen. 

"Was?", meint Falc verwirrt und wirft mir von oben herab einen fragenden Blick zu.

"Mit mir."

"Dich und mich ins Warme schaffen?", sagt der Polizist und hebt irritiert eine Augenbraue, bevor er mich in einen Rollstuhl bugsiert.

"Nein, ich meine...nachher?"

 "Mach dir keine Sorgen", sagt er nur und greift nach der Rückenlehne meines Rollstuhls. Ich bin zu ausgelaugt, um darauf etwas zu antworten, obwohl ich ihm nicht glaube. Stattdessen schliesse ich die Augen, sobald die heisse Luft des Krankenhauses mir entgegenschlägt und versuche, mich auf die orangen Schatten auf meiner Netzhaut zu fokussieren, um nicht Mamas Gesicht sehen zu müssen.

Mama und ihr puppenhaft totes Aussehen.

Falc stoppt den Rollstuhl vor den silbernen Türen eines Aufzugs. Er hat deutlich mehr Ahnung als ich, wo in diesem Krankenhaus wir gerade sind. Das einzige, was ich hier kenne, sind die immer geschlossenen Patientenzimmer 303 bis 307, aus denen ich noch nie einen Menschen kommen sehen habe. 

Der Aufzug öffnet sich mit einem knirschenden Geräusch und der Kommissar zieht mich ins kahle Innere des metallenen Ungeheuers. Er sieht plötzlich unendlich erschöpft aus, die braunen Locken, die beinahe schwarz vor Nässe sind, hängen ihm schwer ins Gesicht und lassen ihn noch bleicher wirken, als er ohnehin schon ist.

In diesem Moment sieht er aus wie eine ältere Version von mir, genauso abgekämpft, wie ich es bin. Und ich weiss, dass ich schuld an diesem Zustand bin. Ich bin für ihn das, was Mama für mich war – ein menschliches schwarzes Loch, das alle, die lange genug in der Nähe bleiben, verschlingt.

Falc dreht sich zu mir hin, als er meinen verzweifelten Blick auf sich spürt. Seine dunklen Augenringe wirken in diesem Licht wie Wunden in seiner hellen Haut.

"Alles in Ordnung?", fragt der Kommissar und stützt sich mit einer Hand auf der Haltestange des Lifts hinter sich ab.

"Du solltest nicht immer hier sein", sage ich und er runzelt die Stirn.

"Ich bin nicht immer hier", widerspricht er mir und hebt die Mundwinkel zu einem schwachen Lächeln.

"Es geht dir nicht gut...", beginne ich heiser, aber er unterbricht mich harsch.

"Es geht mir gut, Andreas." Er fährt sich mit einer Hand durch das durchnässte Haar und blickt zur Decke hoch. Für einen kurzen Moment wirkt es so, als würde er den alten Kaugummi betrachten, der dort oben klebt, doch dann flackern seine Lider und er macht einen seltsam ungeschickten Schritt nach hinten.

Falc sackt bewusstlos gegen die Wand. 



Es geht endlich weiter. Ich hoffe das Kapitel gefällt euch, auch wenn es ein wenig anders ist. Für das nächste müsst ihr wahrscheinlich nicht ganz so lange warten, um zu sehen, was mit Falc passiert :) 





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