Kapitel 68. Coping

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leichte TW für Selbstverletzung


Meine Tür lässt sich nicht abschliessen. Natürlich nicht. Sie knallt geräuschvoll zu, als der starke Wind durch das offene Fenster in den Flur weht und die Blütenblätter von Nicks Blumen reisst. Frustriert werfe ich das Handy auf den Schreibtisch und lasse mich aufs Bett sinken. So verdammt erbärmlich, jämmerlich erbärmlich. Ich versenke meine Fingernägel in der weichen Haut meines Unterarms, aber es ist nicht genug, die blauverfärbte Einstichstelle vom Krankenhauszugang ist ein wenig besser. Ich drücke zu, bis Blut austritt.

"Andreas", unterbricht mich Danny, der mir ins Zimmer gefolgt ist. "Du tust dir weh."

"Ich weiss", rutscht es mir raus, bevor mir einfällt, dass ich immer noch in Probezeit bin und manchmal einfach die Fresse halten sollte. "Tut mir leid, ich mach's nicht wieder."

"Zeig mal her", meint Danny bloss und setzt sich neben mich auf die ungemachten Laken. Gehorsam strecke ich ihm meinen Unterarm hin, den er kurz betrachtet, ohne etwas zu dem Netz aus alten Narben zu sagen, das sich um mein Handgelenk ausbreitet.

"Einverstanden, wenn ich das rasch desinfizier?"

Ich zucke mit den Schultern. Bis Danny mit Pflaster und Spray aus dem Badezimmer zurückkommt, kriege ich es hin, immerhin mein Handy vom Schreibtisch zu fischen.

"Achtung, könnte ein wenig brennen", warnt er mich vor, als ob mir das nicht vollkommen egal wäre. Müde lasse ich ihn machen und versuche mich stattdessen darauf zu fokussieren, was Nick mir geschrieben hat. Die Nachrichten sind noch von Freitag, ein "wie geht's?", ein Foto von einer schwarzen Katze, die sich an ein Stück Hals schmiegt. Nicks Schlüsselbein kommt oberhalb des verrutschten grünen T-Shirts gerade noch zum Vorschein.

"Kannst du das mal kurz weglegen?", unterbricht mich Danny schliesslich. Ein Pflaster klebt auf meinem Arm, klein und weiss und umgeben von ziemlich viel verfärbter Haut.

"Klar", murmle ich beschämt und lasse es ausgeschaltet aufs Bett fallen. Danny hebt kaum merklich die Mundwinkel, als ich zu ihm aufsehe. Die Zimmertür ist zu, es macht mich ein wenig nervös, meine Hände zittern vor Müdigkeit.

"Ich werde mir nachher gleich Gloria vorknöpfen, nur dass du's weisst", beginnt er ruhig. "Aber ich wollte erst nach dir sehen."

Er winkelt ein Bein ein wenig an, bis ihm versehentlich sein Hausschuh vom Fuss fällt. Er lässt ihn unbekümmert liegen, seine Socken sind gestreift.

"Ist irgendwas zwischen dir und Nick passiert?", fragt er vorsichtig.

"Nein", bringe ich knapp hervor. "Er ist mein Freund. Es war mir grade einfach...zu viel."

Danny nickt, die braunen Augen ernst auf mich gerichtet. Er scheint zu überlegen.

"Sie haben kein Problem damit", bemerkt er schliesslich. "Niemand von ihnen, glaub mir. Gloria mag sich scheisse verhalten, aber das hat nichts damit zu tun, dass du einen Freund hast."

Er senkt den Blick nicht, als ich nicht antworte. Draussen nimmt die Intensität des Regens plötzlich noch mal zu, die Tropfen prasseln gegen die Scheibe, als wollten sie mich aus meiner unangenehmen Situation befreien.

"Du musst mir nicht antworten, wenn du nicht willst, Tres, aber...ich nehme an, du hast keine sonderlich guten Erfahrungen mit...anderen Leuten gehabt, was deine...Sexualität angeht", fährt er fort und ich wünsche mir augenblicklich im Erdboden versinken zu können. Danny sieht mich weiterhin an, unbeeindruckt von meinen hochgezogenen Schultern und gesenktem Kopf. 

"Ja", sage ich schliesslich und lasse mein Handy nervös von einer Hand zur anderen fallen. Ich habe es ihnen nie gesagt, aber sie wussten es trotzdem, irgendwie. Tom vor allem, manchmal auch in der Schule. Vielleicht nennt man auch einfach alle Mobbingopfer Schwuchtel.

"Ist Nick dein erster Freund?", fragt Danny vorsichtig und deutet auf mein Telefon. 

"Ja", bringe ich erstickt hervor, frustriert von der grundlosen Angst, die plötzlich in mir aufkommt. Mein Betreuer lächelt ein wenig.

"Ich freue mich schon, ihn kennenzulernen."

Ich nicke. Der Bildschirm meines Handys flackert auf, als eine Nachricht von Falc reinkommt. "sicher?", schreibt er, und ich brauche einen Moment, um nachzuvollziehen, was er damit meint. Wie geht es dir? – Gut. – Sicher? Ich lasse den Screen schwarz werden.

"Ich habe Angst, dass die ganze Schule es jetzt weiss", gestehe ich, als ich wieder aufschaue. Dannys braune Augen betrachten mich nachdenklich. Er braucht ziemlich lange für eine Antwort.

"Vielleicht", sagt er schliesslich. "Aber ich glaube nicht, dass sie schlecht darauf reagieren werden. Lass mich nachher mit Gloria reden, dann weiss ich besser, was Sache ist."

"Mhm", murmle ich und beobachte ihn dabei, wie er aufsteht und das gekippte Fenster schliesst.  Der Wind verstummt und ein paar aufgewirbelte Strähnen fallen zurück in mein Gesicht.

"Mach dir keine Sorgen, wir machen jetzt einfach Tag für Tag weiter und schauen, was kommt."

Ich nicke stumm. Danny zieht aufmunternd die Mundwinkel hoch.

"Komm, du musst noch mehr essen, ich wärm dir noch ein wenig Suppe auf. Wenn du noch keine Lust hast, schon wieder ins Bett zu gehen, können wir nachher noch 'nen Film schauen."

"Ich bin ziemlich müde", sage ich verlegen und kann im selben Moment ein Gähnen nicht unterdrücken. Er lächelt. "Auch gut, aber essen musst du trotzdem. Komm, wir haben sogar Nachtisch. Nastja hat Schokopudding gemacht, ich bin mir ziemlich sicher, dass der vor allem für dich gedacht ist."

Er weicht nicht von meiner Seite, als ich müde auf die Beine komme und zur Tür gehe, obwohl sich alles in mir sträubt, die angenehme Sicherheit meines Zimmers zu verlassen. Gerade als ich die Klinke runterdrücken will, legt der Sozialarbeiter eine Hand auf meine.

"Das mit dem Arm", beginnt er vorsichtig. "Das ist keine gute Coping-Strategie. Wenn du willst, kann ich dir helfen, etwas anderes zu finden, was dir in Stresssituationen hilft."

"Meine Therapeutin hat mir ein paar Sachen mitgegeben", murmle ich verlegen. Er lächelt. "Umso besser. Wir können uns das morgen mal zusammen anschauen, wenn du willst."

Nastja und Ivo sitzen immer noch, vielleicht auch wieder am Tisch, als wir in die Küche treten. Sie sehen mich beide so besorgt an, dass ich mich wieder zu einem Kleinkind in der Grundschule degradiert fühle, das in der Stunde Nasenbluten gekriegt hat und jetzt mit der Lehrerin in die Klasse zurückkehrt.

"Ivo, kannst du noch eine Portion für Tres aufwärmen? Ich unterhalt mich noch schnell mit Gloria, dann können wir die Filmauswahl treffen", sagt Danny gelassen und drückt sich hinter Nastja zur Spüle durch.

"Wie viel hast du gegessen?", fragt er sie mit einem Blick in die grosse Pfanne, die immer noch auf dem Herd steht. "Einen Teller", antwortet sie verlegen. Danny sieht Ivo an, Ivo nickt.

"Super", merkt er zufrieden an und deutet zu einer Tür, von der ich weiss, dass es sich um Glorias Zimmer handelt. An der Tür hängt ein Foto von ihr und Nastja, in kurzen Hosen und Flip Flops irgendwann im Sommer. Sie posieren vor einer Statue, Nastjas Beine sind dünn wie Striche.

"Bist du okay?", fragt Nastja, als die Tür hinter Danny zu schwingt. Ich nicke verlegen und lasse mich auf meinen Stuhl sinken. Ivo beobachtet mich immer noch aufmerksam, während er in der Suppe rührt. Er hebt eine Augenbraue, als er meinen Blick bemerkt.

"Du hast da übrigens Knutschflecken", sagt er schliesslich und deutet auf meinen Hals. "Nur dass du's weisst."


Lass uns einfach so tun, als wäre noch nicht Montag, ja? Ich geh jetzt endlich schlafen.

Was haltet ihr mittlerweile von Danny? Und Tres' verkorkster Beziehung zu seiner Sexualität?

Nächste (technisch gesehen diese Woche) geht es im anderen Buch mit Luis weiter, ich hoffe, ihr seid dabei :)

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