Andreas P.o.V.
Die Tage verstreichen langsam. Ich habe es schon von Anfang an aufgegeben sie zu zählen. Es ist immer dasselbe, das Aufstehen, das Essen, die Gespräche mit der Psychologin.
Wie geht es dir?
Nicht gut. Gar nicht gut.
Weshalb?
Ich antworte nicht. Kein einziges Mal.
Und ich versuche triftige Gründe zu finden. Rede mir ein, dass es wegen des Suizidversuchs ist, oder wegen Tom. Weil ich versagt habe. Aber eigentlich ist es die Einsamkeit, die mir den Atem raubt. Und die nimmt mir niemand hier auch nur im Geringsten. Vielleicht sind alle Leute hier zu sehr beschäftigt mit sich selbst, mit ihrem inneren Kampf oder sie wollen sich einfach nicht mit anderen Psychos befreunden. Wer weiss, die könnten einen ja umbringen, wär ja ganz praktisch für Suizidgefährdete...
Die Qualität meiner Witze hat mit der Zeit hier echt abgenommen.
Und weil wir nun einmal tickende Zeitbomben sind, lässt man uns nicht allein. Misstraut uns ununterbrochen umd folgt uns auf Schritt und Tritt. Und dann waren da noch die Schreie, als sie jemanden fixierten, die wie ausgeschnitten aus einem Horrorfilm über uns hingen, einmal nur, doch sie schnitten mir immer noch grausam ins Herz.
Irgendwie habe ich das Gefühl nun tatsächlich wahnsinnig zu werden. Oder eine Puppe, die man herumschubst. Es ist nicht so, dass alles bedrohlich und dunkel ist, vielmehr werde ich mit meinen eigenen Gedanken eingesperrt, ohne Fluchtmöglichkeit. Ohne den Suizid als Chance, die ich nutzen kann, wenn ich meinen Dämonen nicht entkomme.
Und die Dämonen schweigen nicht, als ich die langen Flure entlanghusche, auf der Suche nach meinem Zimmergenossen. Die Klinke zum Wohnraum ist eiskalt, als ich sie hinabdrücke und die Tür mit einem leisen Knarzen aufschwingt. Und da ist Jonas. Mit dem Gesicht gegen oben, die Augen weit geöffnet, liegt er auf dem Boden. Starrt ins Leere.
Starr blicke ich auf ihn hinab, mache ein paar ungelenke Schritte, schwanke und sinke neben ihm zu Boden. Auf den Knien rutsche ich näher heran. Streiche ihm eine verirrte Strähne aus dem bleichen Gesicht. Meine Hand zittert heftig und ich greife mit der anderen danach, um sie festzuhalten, doch es nützt nichts. Alles zittert, jeder kleinste Muskel.
Eigentlich habe ich ihn kaum gekannt. Gar nicht. Er war immer nur der stille, hilfsbereite Zimmernachbar. Ich frage mich, ob ich wohl auch so aussah. Als ich auf den kalten Fliesen in der Schule lag.
Da ist überall Blut. Hellrote Spritzer, wie frische Erdbeeren, dunkelrote, wie die samtigen Rosen, die man im Supermarkt kaufen kann. Etwas an dem stumpfen Blick, der aus den glasigen Augen spricht, kommt mir unglaublich bekannt vor. Das ist nicht der erste Tote, nicht der erste Tod, den ich sehe. Und dann jagen die Bilder an mir vorbei.
Das schwarze Auto. Samuel... Samu. Blut auf dem Asphalt. Dunkles Haar. Augen wie grünes Glas. Sirenen. Blaulicht. Wut. Schmerz. Unfassbarer Schmerz.
Und dann begreife ich langsam. Setze die passenden Stücke zusammen. Verstehe.
Nicht ich hatte einen Unfall, Samu hatte ihn gehabt. Und er war gestorben. Und ich, -ich hatte mich bloss nicht mehr daran erinnern können. Nicht Samu war abgehauen, Papa war es. Und Mama hatte gelogen.
Langsam nimmt mein Gehirn wieder überhand, zwingt meinen Körper aus seiner Schockstarre, lässt mich langsam aufstehen aus der Blutlache. Nein, ich begreife immer noch nicht. Jonas kann nicht tot sein, doch nicht er. Und Samu. Er auch nicht. Nur Einbildung, ein Albtraum vielleicht.
Aber Jonas ist tot. So tot, wie er es immer sein wollte. Und die Klinge in seiner Hand ist rot und seine grünen Augen glasig.
Ich will schreien, weinen, sterben zugleich. Es sollte mein Blut sein, das das hässliche Linoleum ziert. Ich will vor Schmerzen heulen.
Doch stattdessen mache ich einen Schritt auf den Toten zu, auf Jonas, der zugleich auch irgendwie Samuels Leiche ist und nehme ihm die blutige Klinge aus der Hand. Zerbreche sie mit Wucht.
Ich verstecke sie. Nicht unter dem Bett, nicht in der Matratze und auch nicht in meinen Kleidern. Sie werden sie suchen. Stattdessen schiebe ich sie ihn den Buchrücken von Jonas Tagebuch. Das würden sie vorerst nicht anrühren, zu privat.
Dann geben meine Knie unter mir nach und ich sinke neben der Leiche zu Boden. Ich umarme Jonas kalten Körper und sehe in Samus Gesicht. Ich gebe keinen Laut von mir. Irgendwann werden sie kommen.
"Andreas? Jonas? Kommt ihr? Es warten schon alle...-Verdammt!"
Warme Hände reissen mich zurück, wollen mich in die Höhe zerren. So viele Stimmen, überall. Ich sehe nicht mehr klar, alles sind Fetzen, weisse Flecken, wie Laken, rote Rosen, dunkle Augen. Das Zerren hört auf, ich stehe, nur für wenige Sekunden, dann falle ich haltlos. Gravitation und mein Kopf knallt gegen das harte Bettgestell. Weiss, rot, nur noch schwarz.
"Da kommt nichts mehr...Zu grosser Blutverlust. Er muss schon eine ganze Weile hier liegen...er...-er ist tot. Jonas ist tot."
Ich muss ein paar Minuten bewusstlos gewesen sein, denn als meine Augen sich öffnen, ist Jonas nicht mehr da. Ungelenk versuche ich mich aufzusetzen, doch das Zittern lässt mich auf die weichen Laken zurückfallen. Doch meine Bewegung bleibt nicht unbemerkt. Ein Sanitäter, der eben durch die Tür tritt, erkennt meine Lage und durchquert mit raschen Schritten den Raum.
"Hallo. Darf ich mir das ansehen?", fragt er, während er mich aufmerkam mustert, als ob ich ihm jeden Moment eine verpassen und wegrennen würde.
"Ich bin gegen das Bettgestell gefallen", murmle ich also nur und senke den Blick.
Der Uniformierte mustert rasch den metallenen Rahmen, dann widmet er sich wieder meinen Kopf.
"Bist du ohnmächtig geworden?"
"Ja, ein paar Minuten", versuche ich es kurzzuhalten und hoffe inständig, dass der Mann nicht insistiert mich ins Krankenhaus zu bringen. Der Sanitäter nickt nachdenklich, -er ist noch ziemlich jung und bis jetzt hat keine einzige Emotion seine Professionalität durchdrungen. Er will mich auf Distanz halten.
Bittesehr.
"Hast du dich sonst noch irgendwo verletzt?", fragt er weiter, ohne meinem abschätzenden Blick weitere Aufmerksamkeit zu geben.
"Nein", murmle ich kühl.
"Wir werden dich ins Krankenhaus mitnehmen müssen. Da du bewusstlos warst, muss man das überprüfen lassen."
"Wir? Ich sehe hier nur Sie.", antworte ich trocken und beobachte wie seine professionelle Miene von ihm abfällt, sich von Überraschung, zu Genervtheit und schliesslich zu einem gezwungenen Lächeln wandelt.
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Schattenfall
Teen FictionDrogen in der Keksdose, blaue Flecken von Mamas Liebhaber, blutige Zähne und schlechte Noten in der Schule. Andreas hält nicht viel von seinem Leben. Aber sterben scheint schwieriger zu sein, als gedacht. Besonders als Nick zum ersten Mal sein trist...