Kapitel 23. Ein und Alles

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"Wie meinst du?", fragt Falc, mit unverändert sanfter Stimme, doch ich erkenne, wie sich seine Körperhaltung ein ausschlaggebendes bisschen verändert hat. Seine Ellbogen sind nicht mehr auf seine Oberschenkel gestützt, die Arme und Schultern wirken angespannt.

"Was wenn ich schuld daran bin? Ich meine...was wenn es etwas mit mir zutun hatte?", presse ich hervor, überschlage im Kopf fieberhaft alle Dinge, die ich hätte anders machen können. 

"Warte mal kurz: Hast du sie erstochen?", fragt er und sieht mir direkt in die Augen. Seine Schultern sacken etwas nach hinten und lassen sein helles Hemd zerknittern. 

"Nein! Nat..."

"Und wusstest du, dass sie erstochen werden würde?", unterbricht er mich und stützt sich abermals auf seinen Knien ab, um mir näher zu kommen.

"Nein..."

Falc verzieht die Lippen zu einem halben Lächeln, so subtil, dass ich beinahe meine, es mir nur vorgestellt zu haben.

"Nein, wenn du diese Fragen ehrlich beantwortet hast, ist ihr Tod nicht deine Schuld, Andreas. Ich würde aber gerne noch mehr über "Tom" erfahren, wenn du noch weitermachen willst?"

"Okay...", meine ich heiser und werfe dem hellblonden Polizisten an der Tür einen raschen Blick zu. Aaron hat seine langen Beine überkreuzt und beobachtet mich mit an die Wand gelehntem Kopf wachsam. Er muss wohl auch aus Sicherheitsgründen dort postiert worden sein, um eine Flucht oder einen Angriff zu verhindern. Meine Flucht oder meinen Angriff.                                         Ich schaudere beim Anblick seines Waffengurts und bin mir dabei sicher, dass beide Polizisten meine Reaktion genau registriert haben.

"Also...", beginnt Falc dann, als wir beide wieder unsere Blicke von Aarons Waffe nehmen und lehnt sich erneut etwas nach vorne. 

"Tom...war der Zuhälter deiner Mutter?"

Ich schlucke. "Ich...nehme es an. Er war sozusagen...ihr Freund, er hat ihr einen Job in seiner Bar besorgt und bezahlt die Wohnung und Geld für...Essen und so..."

"Und die Drogen?"

"Die hatte er. Aber sie musste dafür...eine Gegenleistung erbringen, also für die Drogen und alles andere auch."

Falc sagt nichts. Er kritzelt auf seinem Block herum, das Kratzen seines Bleistifts jagt mir einen unangenehmen Schauer über den Rücken. Draussen heulen Sirenen auf. Ich bin mir nicht einmal sicher, in welchem Krankenhaus ich liege. 

Die Zimmerausstattung kommt mir entfernt bekannt vor; ausklappbarer Nachttisch, ein Whiteboard, ein kleiner Tisch, Vorhänge. Alles säuberlich weiss. Ich schiele auf den überbandagierten Katheter in meiner Armbeuge. Der dünne Plastikschlauch verbindet ihn über ein Gerät auf dessen bläulichen Monitor ich unscharf ein paar Ziffern erkenne, mit einer halbleeren Infusion.

"Die Gegenleistung...war der Drogenhandel und die Prostitution, nehme ich an?", meint der Polizist. Ich nicke benommen und ziehe die Bettdecke mit einer Hand enger um mich, wobei der Plastikschlauch ein ekelerregendes Ziepen an meinem Arm verursacht.

"Wie hat sich Tom dir gegenüber verhalten?", fragt Falc und streift mit dem Blick meine geschundenen Arme. Den über meinen Nacken und meine Schulter an mich bandagierten und den mit Gaze und Katheter ausgestatteten. 

Mir weicht das Blut aus dem Gesicht. Unsicher öffne ich und schliesse den Mund, ohne dass ich einen Ton von mir gebe. Jetzt ist wohl der Zeitpunkt gekommen, an dem ich zugeben muss, wer mich jahrelang misshandelt hat. Und ich habe dabei wirklich nichts mehr zu verlieren. Nicht Mamas Zuneigung, nicht Mamas Anerkennung, nicht Mamas Leben.

"Er hat mich gehasst", stosse ich angewidert aus. Die Worte lassen einen fahlen Nachgeschmack zurück. Wenn ich ihn vorher bereits angezeigt hätte? Sie wäre noch am Leben. Ich muss mich zusammenreissen, damit ich mich nicht wieder übergeben muss, starre angestrengt auf die zusammengeknüllte Decke in meiner Hand.

Falc scheint darauf zu warten, dass ich noch mehr sage. Er lässt den Stift zwischen seinen Fingern rotieren, mustert mich dabei fortwährend aufmerksam.

"Er hat mich geschlagen", murmle ich ergeben und füge meiner Aussage noch ein Schulterzucken hinzu. Es ist nicht mehr wichtig, jetzt ist es ohnehin zu spät.

Der rotierende Stift hält abrupt inne und rollt über die Fingerkuppen des Polizisten, mit zwei klickenden Geräuschen trifft er auf den Linoleumboden. Falc bückt sich danach und eine Welle aus Locken fällt ihm dabei in die Stirn, Aarons helle Augen leuchten bei diesem Anblick auf.

"Wann hat das angefangen? Wann haben sich Tom und deine Mutter überhaupt kennengelernt?"

"Ich...weiss nicht genau...ich glaube sie haben sich in einer Bar kennengelernt, kurz nachdem...mein Vater entschieden hat, sich von dannen zu machen...Und er hat ihr einen Job und Unterstützung angeboten..."

"Und die Misshandlung?"

"Auch dann", gebe ich zerknirscht zu. Mama konnte oder wollte mich nicht beschützen, das hatte ich schon früh gelernt. Und ich auch nicht. Ich versuchte ein Zusammentreffen mit Tom möglichst zu vermeiden, denn er war geradezu darauf erpicht, mir wehzutun.

"Er hat es genossen, mich zu schlagen...und meine Mutter gegen mich auszuspielen. Egal was er getan hätte, wir waren komplett auf ihn angewiesen. Meine Mutter war sein Spielzeug, sie hätte für mehr Stoff alles getan, Heroin war zehn Jahre lang ihr...Ein und Alles."

"Aber du hast sie geliebt?"

"Ja, natürlich. Sie war mein Ein und Alles."

"Aber sie hat dich im Stich gelassen?"

"Ich kann sie nicht hassen, sie war abhängig. Ich wollte doch nur...meine echte Mutter zurück. Ich habe gedacht, dass ich es vielleicht schaffe...und dann habe ich gedacht, dass ich das Problem war. Aber jetzt glaube ich, dass ich zu wenig für sie gekämpft habe, verstehen Sie? Vielleicht hätte ich sie trotzdem retten können."

"Vielleicht wollte sie nicht gerettet werden, Andreas. Drogenabhängige sehen nicht immer einen Grund ihren momentanen Zustand zu ändern und du kannst sie nicht dazu zwingen, das zu tun – sie müssen es selbst wollen."

Ich lächle gequält.

"Ich liebe sie...ich konnte sie nicht zurücklassen. Sie war der einzige Mensch, den ich noch hatte."

Falc schluckt, sein Adamsapfel macht einen Satz. 

"Kann ich Sie etwas fragen?", beginne ich zaghaft und beobachte, wie Aarons und Falcs Augen sich überrascht weiten.

"Ja, natürlich. Schiess los."

"Sie haben mich bis jetzt kein einziges Mal danach gefragt, wie und weshalb ich ausgerechnet an diesem Tag aus der Psychiatrie geflüchtet bin. Weshalb?"

Falc nickt und blättert in seinem Block ein paar Seiten zurück.

"Erzähl mir alles an diesem Tag nochmal von vorne an", weist er mich bestimmt an und zückt seinen Stift.

Konsterniert blicke ich ihn an. "Sie beantworten damit meine Frage nicht...?"

Falc nickt abermals. 

"Fang bitte an."


Hallo miteinander,

Ich habe in einigermassen gutem Zustand die Maturaprüfungen und den Numerus Clausus überlebt, bin aber immer noch im Pflegepraktikum :) 

(Ich verstehe langsam wie UNFASSBAR mühsam es ist, wenn Patienten das Weite suchen...Es tut mir leid, all meine Charaktere, die das durchmachen mussten.)

Aber jedenfalls habe ich jetzt wieder Zeit und so kommt definitiv viel häufiger als zuvor ein neues Kapitel! 

Liebe Grüsse

Hilda





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