Kapitel 59. Milchtee

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(leichte) Triggerwarnung: Gespräche über Essstörungen

Nicks schmale, weissgestrichene Holztür wirkt kaum schalldämpfend, sogar Falcs Räuspern dringt durch. Ich rutsche gemeinsam mit der Decke bis zur Wand an die das Bett grenzt und lasse den Kopf dagegen sinken, den warmen Stoff bis zum Kinn hochgezogen.

"Nick, ehrlich, ich bin gerade wirklich wütend auf dich. Du kannst nicht, wirklich nicht, einfach so verschwinden, ohne dass ich weiss wohin und dann nicht mehr erreichbar sein. Ich weiss, du meinst es...gut, aber das geht nicht", beginnt der Kommissar mit ruhiger Stimme, aber ich kann seine unruhigen Schritte hören. 

"Es war keine Absicht. Ich habe nicht daran gedacht, dass ich mich noch nicht angemeldet habe und ich hätte dir geschrieben, wenn ich nicht eingeschlafen wäre", unterbricht ihn Nick.

"Ja, war scheisse, sollte nicht passieren", sagt Falc genervt. "Schau, ich trage die Verantwortung für Andreas, was seine Gesundheit angeht – und auch sonst. Wenn ich nicht weiss, wo er ist, muss ich irgendwann eine Meldung rausgeben und euch suchen lassen. Und das will ich wirklich nicht tun müssen."

"Warum hast du nicht einfach sein Handy geortet?"

"Hab ich getan. Aber ich war in Berlin, deswegen hat es ein wenig gedauert, bis ich hier war", antwortet Falc trocken. "Ich wollte erstmal keine Streife vorbei schicken."

"Sorry, wirklich. Es war meine Idee, er war zu müde, um wirklich zu protestieren."

Falc seufzt.

"Wird es Folgen für ihn haben?" 

"Nein", antwortet der Kommissar knapp. "Aber so etwas kann nicht wieder passieren, okay?"

"Ja."

"Nick, du brauchst ihn nicht zu decken. Wir wollen beide dasselbe. Es hilft ihm nicht, wenn du mir Dinge verschweigst."

"Er hat gegessen, falls du das meinst. Sein Teller steht in der Spüle", antwortet Nick unbeeindruckt. 

"Wirklich?"

"Ja."

"Mir hat heute jemand erzählt, dass Andreas Probleme zu essen hat. Was hältst du davon?"

Nick sagt einen Moment lang nichts. Mein Fuss verfängt sich in der Bettdecke, als ich hastig aufstehe.

"Ich weiss nicht, kann sein. Er ist schon sehr dünn", sagt Nick gerade, als ich die Türklinke runterdrücke. Zwei braune Augenpaare richten sich auf mich.

"Hi, Andreas", sagt Falc mit einem matten Lächeln. Er sieht übermüdet aus, mit dunklen Ringen unter den Augen und ungekämmtem Haar. "Hi", antworte ich verlegen und lehne mich gegen die Wand, um nicht vom plötzlichen Blutdruckabfall übermannt zu werden. Mein Sichtfeld verfärbt sich für zwei lange Sekunden rot, bis mein Körper sich wieder in den Griff kriegt. 

"Ich habe die letzten Tage nicht richtig gegessen", gebe ich zu, den Blick direkt auf Falc gerichtet. Nicks Hand liegt beinahe augenblicklich auf meiner Schulter und ich versteife mich instinktiv unter seiner Berührung, er muss mein Schulterblatt spüren. Ich drücke mich gegen die Wand, wünsche mir, dass ich mit ihr verschmelzen kann. 

"Komm, wir gehen zurück ins Zimmer", sagt Nick sanft und zieht mich mit sich, bis ich abermals auf dem Bett sitze, den Kopf gegen die Wand gelehnt. Nick bleibt direkt neben mir sitzen und zieht die Decke über mich. Falc setzt sich auf die äusserste Bettkante, die dunklen Augen ernst auf mich gerichtet.

"Ich kann rausgehen, wenn du willst", flüstert Nick und drückt meine Hand sanft. Ich schüttle bloss den Kopf, er lehnt sich ein wenig gegen mich, nah genug, dass seine blonden Haare meinen Hals berühren.

SchattenfallWo Geschichten leben. Entdecke jetzt