Kapitel 82. Schneeweisschen und Rosenrot

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Der Wecker zeigt 3:21 an. Ich sitze auf der Bettkante und kriege keine Luft. Das Zimmer zerfliesst graublau vor den Augen, nur das verzerrte Schluchzen aus meiner Kehle lässt mich Traum von Wirklichkeit unterscheiden. Es ist so schwer. Ich klammere mich an der Bettdecke fest, um nicht verloren zu gehen. 

Panikattacke, denk ich mir. Sie hat mich geweckt. Ich weiss nicht, was dagegen machen. Fühlt sich an, als würde ich sterben. Es war noch nie so schlimm, glaube ich. Fühlt sich so an, als würde mir jemand in den Brustkorb treten, wie bei Tom früher. Keuchend fasse ich nach meinen Rippen, dort, wo mein Herz donnernd gegen die flachen Knochen schlägt. Ich muss das Fenster aufmachen, – das Fenster, frische Luft hilft bestimmt. 

Ich komm auf die Füsse, strauchle durchs Zimmer. Fasse nach dem kalten Metall des Fensterriegels, doch er bewegt sich kaum. Die Luft im Raum ist so dünn, dass ich nach Atem schnappen muss, dünn und unerträglich heiss. Japsend sinke ich unter der Fensterbank zu Boden, greife nach meiner Kehle.

Das Zimmer baut sich hoch und dunkelgrau über mir auf. Irgendwo blinkt orangenes Licht. Es erinnert mich an Warnleuchten bei Verkehrsunfällen. Alles dunkel, nur oranges, blinkendes Licht und dahinter Verderben. Samuel. Mein Herz zerschlägt an meiner Brustwand. Samuel.

Mein Fuss verheddert sich irgendwo. Ich ziehe an den langen Kabeln, bis die Mehrfachsteckdose gegen mein Bein baumelt. Es kracht, als das eingesteckte Handy auf dem Boden aufschlägt. Es leuchtet auf, als ich danach fasse, geblendet versuche ich mich auf den grellen Bildschirm zu fokussieren. Mein Kopf beruhigt sich allmählich, je länger ich die kleinen Buchstaben auf dem Bildschirm betrachte, die Schatten an den Wänden verkriechen sich zurück in ihre blinden Winkel. 

"Fuck", murmle ich, als die Luft endlich wieder zum Sprechen reicht. Mein Kopf schwirrt noch immer, aber langsam kann ich wieder klar denken. In weniger als drei Stunden muss ich aufstehen. Bis jetzt hab ich vielleicht vierzig Minuten geschlafen, bevor mich die Panikattacke aus dem Dämmerzustand gerissen hat. Der Anzug für den Gerichtstermin morgen hängt schon an der Tür, seine gebügelten Ärmel ausgestreckt wie bei einem Mahnmal. 

Die Angst packt mich wieder, als ich dran denke, wie ich mich anziehen muss, in ein paar Stunden. Mich im Badezimmer fertigmache. Danny, der mich begleiten muss. Ich wünschte, das wäre nur ein Albtraum, aus dem ich erwachen kann. Ein Albtraum, der endet. Kein Albtraum, der in zehn Jahren Gefängnis enden kann. Ich bin nicht mal nervös. Die Angst geht viel tiefer, so tief, dass ich nicht weiss, wie damit umgehen. Vielleicht ist es das, was man existenzielle Angst nennt. Das Gefühl, dass es absolut keinen Ausweg gibt, wo kein Schönreden mehr hilft und meine Copingstrategien eine nach der anderen versagen. 

"Bitte nicht", bringe ich verzweifelt hervor, als mir abermals die Luft ausgeht. Ich zweifle daran, dass ich das grade selbst hinkriege. Aber was ist die Alternative? Verkrampft blicke ich zurück aufs Handy, in einem halbherzigen Versuch, mich abzulenken. Lese das Wort dreimal, ohne es zu verstehen. 

Es dauert einige Sekunden, bis ich den eingehenden Anruf auf meinem Bildschirm überhaupt bemerke. Nick, merke ich, ich hab ihn versehentlich angerufen. Mein Herz setzt kurz aus. Ich kann nicht mit ihm reden, besonders nicht jetzt, aber ich kriege es nicht hin, ihn wegzudrücken. Also lasse ich ihn einfach klingeln, der grüne Hörer flackert tonlos im Dunkeln. Fuck, mir geht es echt nicht gut, denke ich verzweifelt. Alles ist so ausweglos. Vielleicht hätte ich nie so weit leben sollen. Vielleicht war dieser Tag im Herbst eigentlich dafür bestimmt, dass ich diese Dreckswelt verlasse. Vielleicht sollte ich das jetzt nachholen.

"Ah", murmle ich zerrüttet. Ich hab schon lange nicht mehr so gedacht, diese kranken Gedanken so ernst gemeint. Es macht mir Angst. Impulsiv drücke ich auf den grünen Hörer, bevor es noch schlimmer wird. 

SchattenfallWo Geschichten leben. Entdecke jetzt