Kapitel 47. Stücke der Freiheit

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Falc schafft es an diesem Abend nicht mehr nach Hause. Stattdessen findet ihn Camille bei der allmorgendlichen Sechs-Uhr-Kontrolle zusammengerollt im zweiten Patientenbett schlafend.

"Huch, meine Patienten vermehren sich", gibt sie belustigt von sich und öffnet das verdunkelte Fenster, um ein wenig frische Luft in das muffige Zimmer einzulassen. Die dimmenden Storen lässt sie anders als sonst unten. Praktisch lautlos legt sie mir die Blutdruckmanschette um den Arm, schreibt meine Werte mit Rotstift auf und reicht mir ein Glas Wasser, dessen kleine Kondensperlen kalt meine Haut hinabrinnen.

"Irgendwelche Schmerzen oder Übelkeit?", fragt sie mit gedämpfter Stimme und lächelt, als ich den Kopf schüttle. Ohne einen weiteren Kommentar verschwindet sie in Richtung Tür, öffnet das kleine Tor zur Aussenwelt, wo gelbes Licht die Flure flutet und der schwache Geruch nach Kaffee durch den Korridor wabert.

"Ich lasse euch bis kurz nach sieben noch mal in Ruhe", wispert sie und ihr Dutt aus rotblondem Haar verschwindet wie eine dunkle, dichte Wolke aus meinem Sichtfeld.

Falc schläft weiter, den Rücken unter der dünnen Decke zu mir gedreht. Nur die dunklen Locken heben sich im graublauen Frühmorgenlicht deutlich vom weissen Stoff ab wie wirre Dornengewächse wuchern sie übers Bettkissen wie die Brombeerranken, die dicht und unbesiegbar den feuchten Waldboden beherrschen.

Die kalte Nachtluft, die von draussen ins Zimmer dringt, riecht nach Schnee und feuchter Erde. Dem Geruch von Tod und Leben, von stundenlang in einem Gebüsch erfrieren, mit Blut an Händen und Gesicht. Nach hellgrünen, jungen Pflanzen, die wagemutig den Kopf aus der noch halbgefrorenen Erde stecken.

Es raschelt, als Falc sich auf den Rücken dreht. Die Haare fallen lautlos von seinem Gesicht aufs Kissen und entblössen sein blasses Gesicht. Kurz habe ich das Gefühl, dass sich seine Lippen bewegen, doch dann dreht er sich erneut unruhig von mir weg.

Ich starre noch eine Stunde lang schlaftrunken ins Dunkle, lausche dem Klirren und dem leisen Pfeifton eines Wasserkochers in der nahen Küche, wo andere Menschen andere Leben mit anderen Gedanken führen. Als Camille zum zweiten Mal das Zimmer betritt, liegt Falc mit dem Gesicht zu mir.

"Am Tisch?", fragt sie und macht mit dem Tablett eine angedeutete Drehung in Richtung Tisch.

"Gerne", sage ich leise und lasse zu, dass sie mir die Binde an meinem Arm abnimmt. Fürs Essen und für die Physio darf ich sie jeweils abziehen, so funktionsfähig ist mein Humerus mittlerweile wieder. 

Neben mir setzt sich Falc kerzengerade im Bett auf und mustert uns desorientiert, die Locken durch seinen Verband noch abstehender als sonst. 

"Guten Morgen!", begrüsst ihn Camille mit einem mitleidigen Lächeln, in dessen Genuss sonst nur ich komme. 

"Guten...Morgen", sagt er befremdet und wirft einen Blick auf die Uhr, die im Moment fünf Uhr anzeigt. Sie scheint Gefallen daran zu finden, unschuldige Leute mit falschen Zeiten zu verwirren.

"Tut mir leid, wie spät ist es?", fragt der Kommissar verwirrt und fährt sich matt durch das dunkle Haar.

"Kurz nach sieben. Kann ich Ihnen einen Kaffee bringen?", sagt Camille und wartet sein Nicken nicht einmal ab, bevor sie erneut aus der Tür verschwindet. Falc blickt ihr überrumpelt hinterher, bevor er sich mit einem Seufzen aus dem Bett schwingt und zum Waschbecken schlendert. Mit beiden Händen spritzt er sich Wasser ins Gesicht und nimmt ohne ein Zögern ein Handtuch aus dem Reserveschrank neben sich. 

"Wie geht es dir heute?", fragt er, ohne das Gesicht aus dem Frotteetuch zu nehmen.

"Ganz in Ordnung", murmle ich müde und nehme einen Schluck vom garantiert wässrigen Krankenhauskaffee. Es gibt auch besseren, in einer grösseren Tasse aus einer grösseren Maschine. Der ist allerdings nur für Privatpatienten und Ärzte gedacht, nicht für versiffte Allgemeinversicherte wie mich.

Ohne Handschellen und ohne uniformierten Polizist im Zimmer fühlt es sich heute beinahe wie Freiheit an. Eine Freiheit aus dichten grauen Wolken, die am Horizont kleben, aus Flugzeugen mit roten Lichtern und endlosen Staus aus hupenden Autos, alles zum Berühren nah hinter einer dünnen Glasscheibe und doch Lichtjahre entfernt. Eine Freiheit hinter Fenstern auf Kippe.

"Darf ich das Fenster ganz offen haben, wenn du neben mir stehst?", frage ich Falc matt. Er hebt kurz den Blick von seinem Handy, nur einen Augenblick, und schüttelt den Kopf.

"Nicht jetzt, tut mir leid."

Er widmet seine Aufmerksamkeit wieder ganz seinem Telefon und ich meine der Wolkenwand hinter meinem Glaskäfig. Ein paar Vögel huschen als dunkle Schemen vorbei, die Nacht verzieht sich als dunkler Streifen an den Horizont.

"Andreas, ich muss kurz raus, um zu telefonieren", sagt Falc nach einer Weile. Bestürzt beobachte ich, wie er beinahe automatisch nach dem Paar Handschellen greift, das hübsch drapiert zwischen Mineralwasser und Stauschlauch auf dem Nachttisch steht.

"Willst du mich an die Heizung anketten?"

"Ich weiss es nicht", gibt der Kommissar frustriert von sich und lässt das metallene Stück klirrend zwischen seinen Händen hin und her fallen.

"Bitte nicht", flehe ich leise und spüre, wie die Angst flackernd in mir zum Leben erwacht. "Bitte nicht."

Mitleid spiegelt sich in Falcs braunen Augen. Mitleid hilft mir nicht, Mitleid ist nur ein schwacher, flüchtiger Abdruck des eigenen Leids in den Herzen und Augen anderer.

"Ich werde nichts tun, bitte, Camille ist ohnehin gleich wieder da", bitte ich ihn. Aus der Tasse schwappt heisser, wässriger Kaffee auf meine bebenden Finger.

Der Polizist schüttelt kaum sichtbar den Kopf, nur seine langen Locken verraten die Bewegung.

"Ich kann nicht verantworten, dass dir etwas passiert. Aber ich kann nach jemanden klingeln, der auf dich aufpasst."

"Ich brauche niemanden, der auf mich aufpasst. Ich werde nichts tun, bitte glaub mir."

Falcs Blick bleibt noch für einige Sekunden an mir hängen, mustert mein Gesicht, als ob er darin verborgene Hinweise auf meine wahren Intentionen entdecken könnte. Dann nickt er.

"Bleib hier sitzen."

Dann bin ich allein im Zimmer. Zum ersten Mal allein ohne Handschellen oder Polizisten, ohne Pflegepersonal und ohne Infusionen in meinem Arm. Ich könnte aufstehen, mich mit ausgestreckten Armen im Kreis drehen, einmal, zweimal, dreimal. Ich könnte mich auf den Boden legen und niemand würde etwas dazu sagen, niemand mich zurück ins Bett zwingen. Ich bin frei in diesem kleinen Raum, zwanzig Quadratmeter Freiheit für ein paar Minuten.

Aber ich bleibe sitzen und trinke meinen Kaffee, kratze die eingetrockneten braunen Flecken vom Tisch. Bis schliesslich Camille das Zimmer betritt und meine kleine Blase Freiheit von ihr ungehört zerplatzt.

"Andreas!", reisst mich Falcs Stimme aus meinen Gedanken. Er lächelt beinahe euphorisch, als ich überrascht zu ihm aufsehe.

"Andreas, ich glaube, ich bringe dich endlich hier raus."


Ich beginne am Montag mein Studium, aber vielleicht kommt hier davor noch ein Kapitel :)

Auf jeden Fall kommt ihr bald endlich wieder in Genuss von etwas anderem als Krankenhausszenerien – und Krankenhauskaffee (den guten kriegen wirklich nur Ärzte und Privatpatienten, was lächerlich ist, wenn man bedenkt, was die Pflege leistet).

SchattenfallWo Geschichten leben. Entdecke jetzt