Kapitel 53. trautes Heim

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Nick verabschiedet sich noch auf dem Parkplatz von mir. Mit einem aufmunternden Lächeln winkt er mir noch einmal zu, bevor er um die Ecke hin zur nahen S-Bahn Station verschwindet. Zurück bleiben nur die bleierne Stille und der schale Geruch nach Auto, der mich angewidert die Nase rümpfen lässt.

"Also los gehts", sagt Falc wenig enthusiastisch und lässt den Motor an. Seit seiner kurzen Predigt haben wir nicht mehr geredet, weil ich nicht wusste, was antworten und er nichts mehr zu sagen hatte. Also hatte Nick die Konversation am Laufen gehalten, mühelos natürlich. Und jetzt hat er ein Vakuum hinterlassen, dass sich nur schwer füllen lässt. Keine Besuche am ersten Tag, ausnahmsweise nicht auf Falcs Kommando hin, sondern eine Regel der Institution. Auch am zweiten Tag nicht. Ein Wochenende, um dich einzugewöhnen. Danach habe ich ohnehin einen militärischen Stundenplan, der jede Sekunde meines Lebens regelt. 

Der Kommissar schaltet das Radio ein. Viel zu laut schallt mir ein grauenvoller Remix von Bella Ciao entgegen, der meine Trommelfelle schmerzhaft flackern lässt. 

"Sorry", entschuldigt sich Falc verlegen. "Und...ich wollte nicht die Stimmung verderben. Ich mache mir nur Sorgen um dich, weisst du."

Er wirft mir einen kurzen Blick zu, bevor er sich wieder auf die Strasse vor sich konzentriert. Es erstaunt mich überhaupt, dass er mich vorne Platz nehmen lassen hat. Es fühlt sich nicht ganz richtig an.

"Für nächste Woche hast du meine Nummer. Wenn irgendwas ist, rufst du mich einfach an, ja?", sagt er nach noch mehr unangenehmem Schweigen. Ich komme nicht mehr dazu, ihm zu antworten, denn im nächsten Moment hält er bereits vor einem beinahe asketischen, weissgestrichenem Mehrfamilienhaus mit einer dunkelgrünen Eibe davor, die wohl einen Hauch von Natur vermitteln soll. Trist.

Resigniert folge ich Falc über den asphaltierten Vorplatz zur Eingangstür, wo sechs Briefkästen ordentlich aufgereiht neben den Klingelschildern stehen. Er drückt den Knopf links in der Mitte und das Surren des Türöffners dröhnt in meinen Ohren. Wie bei uns zu Hause. Mir und Mama. Das ist schon lange her, witzig, wie lange das her ist. Monate. Aber hier ist es weniger versifft, ein durchschnittlicher, biederer, sauber-ordentlicher Stadtteil ohne Graffitis und Pissegeruch im Treppenhaus. Ich bin mir nicht sicher, ob ich das besser finde.

Falc merkt erst gar nicht, dass ich zurückbleibe. Ich höre seine Schritte auf der Treppe über mir, während ich gedankenverloren auf dem ersten Stock stehen bleibe. Erst einen Moment später höre ich ihn einen Fluch ausstossen, dann das harte Aufschlagen von Schuhen, als er rasch die Stufen herabkommt. Als er mich sieht, bremst er abrupt ab. Mit einem Kopfschütteln nimmt er mich beim Ärmel wie ein verloren gegangenes Schäfchen. 

"Kind, was machst du schon wieder?", seufzt er leise und zieht mich mit sich, als ich ihm keine Antwort gebe. Widerstandslos folge ich ihm. Treppe 1, Treppe 2, bis hin zu einer geöffneten Tür vor der mein Plastiksack von Habseligkeiten mit den Blumen drin liegt.

"So, hier sind wir", spricht Falc einen jungen Mann an, der den Kopf hebt, als wir eintreten. Danny, mit dem ich kurz in der Klinik gesprochen habe, als Interview für dieses Heim quasi. Danny ist ein fucking bescheuerter Name, Danny der Sozialarbeiter und offiziell mein Betreuer.

"Hallo", begrüsst er uns mit einem müden Lächeln, das dafür spricht, dass sein Tag jetzt schon lang genug war. Kurz bleibt sein Blick an mir hängen. Mir ist klar, dass ich gerade die Selbstsicherheit eines Rehs im Scheinwerferlicht ausstrahle, das gerade sein neues Gehege ängstlich beäugt.

"Alles gut bei dir, Andreas?", fragt Danny, doch wieder verschlucke ich meine Antwort, um der Panik keinen Weg raus zu bieten, wo sie sich lautstark und unkontrolliert bemerkbar machen könnte. Also schweige ich und Falc dreht seine Hand auf die Art und Weise, die einem zu Verstehen gibt, dass alles nur halb rund läuft.

SchattenfallWo Geschichten leben. Entdecke jetzt