Kapitel 73. Helferkomplex

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"Du bist Schulsani?", frage ich verwirrt, als Gloria das Sanitätszimmer aufschliesst. 

"Nein", sagt sie spöttisch und wirft das schwere Haar nach hinten. "Kann kein Blut sehen."

"Ah", murmle ich verlegen. Ich kann mich an ihren Blick erinnern, als sie mich mit gebrochenem Kiefer im Flur fand, wahrscheinlich der einzige Moment, in dem ich sie wirklich verunsichert gesehen habe. Ich verstehe es. Blut macht mir auch Angst, Blut klebt an Schmerzen und Blut klebt an Leichen und an diesem Scheissmesser, das mich übel werden lässt.

"Ich war Schulsani", bemerkt Nick, vielleicht spürt er meine Angst. Seine Hand ist warm mit meiner verschränkt, auch wenn sie zittert. Ich habe es bis jetzt vermieden, ihn genau anzusehen, schaue nur den blauen Ärmel seines Wollpullis in meinem Schoss an, die Nägel, von denen zwei dunkelgrün angemalt sind. 

"Natürlich", spotte ich leise, das weiche Polster des abgenutzten Sofas sinkt unter mir ein. Natürlich war er das, mit seinem verfluchten Helferkomplex und seiner unendlichen Geduld. Wahrscheinlich hatte auch nie jemand etwas dagegen, sein Nasenbluten vom hübschen, blonden Schulsani mit viel zu viel Charme behandeln zu lassen. Besser als mein Sportlehrer wäre er ohnehin gewesen. 

"Tres, wie geht's dir?"

"Okay", sage ich nur. "War schon schlimmer."

Nick drückt meine Hand etwas fester, ich entziehe sie ihm rasch, seine Nähe ist mir plötzlich unangenehm, die braunen Augen zu ernst. 

"Willst du drüber reden?"

"Nicht wirklich."

Gloria schnaubt, ihre dunklen Augen fixieren mich verächtlich. Sie stützt sich an einem der hohen weissen Schränke auf der rechten Seite des Raumes ab, das Kinn erhoben, den Kopf angelehnt, sodass die langen braunen Haare die Wand hinunterfliessen. 

"Weiss dein Freund eigentlich, warum die Polizei dich nicht ohne GPS aus dem Haus lässt?"

"Es ist kein GPS", erwidere ich matt. Sie zieht die Mundwinkel hoch. 

"Er weiss es also nicht."

Nick rührt sich neben mir, als ich aufsehe, sind seine braunen Augen nicht auf Gloria gerichtet, sondern auf mich. Er sieht ein wenig müde aus, die dunklen Schatten verraten ihn, müde, aber er sieht nur mich an. Ich komme nicht umhin, den leisen Vorwurf darin zu bemerken.

"Willst du's uns nicht verraten, Andreas?", stochert Gloria weiter, ohne den Hinterkopf von der Wand zu heben. "Hey", unterbricht Nick sie knapp. "Lass ihn."

"Ich mach ja gar nix", bemerkt meine Mitbewohnerin belustigt. "Aber findest du's nicht weird as fuck, dass du das nicht weisst?"

Nick seufzt und wischt sich die blonden Strähnen aus dem Gesicht. Jetzt sieht er noch viel müder aus. Sein Blick streift meinen kurz, bevor er zu Gloria aufsieht.

"Das ist seine Entscheidung."

Sie lacht trocken. Ich schliesse erschöpft die Augen, als sie erneut die hübschen Lippen verzieht. Gott, ich bin so müde, so, so müde und es hört nie auf. Sie redet einfach weiter. 

"Seine Entscheidung ist offenbar, dass es dich nicht interessieren muss. Hast du Angst, dass dein netter Freund dich nicht mehr lieb hat, wenn er weiss, was du getan hast, Andreas?"

"Hör auf damit", unterbricht Nick sie harsch. "Wenn er es dir erzählen will, macht er das ohne deine Manipulationsscheisse."

"Er erzählt's nicht mal dir, sunny boy. Ich meine nur, gibt vielleicht 'nen Grund dafür."

"Bitte lass mich einfach in Ruhe", sage ich zittrig. "Bitte lass mich einfach in Ruhe. Ich hab dir nichts getan. Ich hab dir nie was getan."

Gloria sieht mich an. Spöttisch.

"Woher soll ich wissen, dass du mich nicht einfach im Schlaf erstichst?"

"Warum sollte ich das tun?", bringe ich gequält hervor. "Warum sollte ich?"

Sie zuckt mit den Schultern. 

"Noch nie jemanden umgebracht?"

"Nein", sage ich erschöpft, die Tränen kleben in meinen Augenwinkeln. "Nein, nein, nein, nein, nein, nein."

Gloria sagt nichts, ihre Augenbrauen sind gehoben. Es fällt alles zusammen, ich höre es knirschen und knacken. Wie ein Feuer. Ein Feuer in einer Welt aus Holz.

"Ich hab sie nicht umgebracht", bringe ich erstickt hervor. "Ich hab sie gefunden...und sie war voll mit Blut...es war überall...überall...ich hab's versucht, ich hab's wirklich versucht...glaubt mir..."

Nick drückt meine Hand. Er sieht mich an, aber sein Blick verschwimmt in den Tränen. Vielleicht redet er, Gloria redet bestimmt. Ich rede einfach weiter. Irgendetwas einfach. Von Mama und den Schultoiletten. Nick zieht mich an sich, bis ich mein Gesicht in seinem Pulli verberge. 

"Ich weiss, du magst mich eigentlich nicht", murmle ich, als er sich über mich beugt. 

"Okay", sagt er sachte und streicht durch mein Haar. "Das ist Quatsch."

"Nein, du weisst es einfach noch nicht. Vielleicht glaubst du, dass du mich magst, aber das ist Bullshit. Niemand mag mich. Und irgendwann checkst du's und dann gehst du."

"Das ist Bullshit", sagt Nick und drückt mir einen Kuss auf die Stirn. 

Das Sofa wackelt etwas unter mir, ich richte mich wieder auf, die dunklen Locken kleben im verweinten Gesicht. Gloria betrachtet mich aus dem Augenwinkel, ihr Oberschenkel berührt meinen notgedrungen, das Sofa ist viel zu klein für drei Menschen.

"Wollen wir hier raus?", bemerkt sie schliesslich. 

"Wohin?", frage ich matt.

"Keine Ahnung. Döner holen oder so."

"Ich darf das Schulgelände nicht verlassen."

Gloria dreht den Kopf zu mir, ihre braunen Augen glänzen spöttisch.

"Du oder dein Handy?"

"Ich und mein Handy", erwidere ich knapp. 

"Leg's doch einfach ins Schliessfach, wo ist das Problem?"

Erschöpft schüttle ich den Kopf. Nick weicht aus, als meine Haare ihn beinahe im Gesicht treffen.

"Ich will keinen Ärger."

"Kriegst keinen Ärger. Im schlimmsten Fall sagst du halt, dass sie dir das Handy weggenommen haben. Kann passieren", meint Gloria unbeeindruckt. "Ich kann's auch bezeugen, als Klassensprecherin."

"Sicher? Letztes Mal hast du mich viel lieber verpetzt."

Sie seufzt und streicht sich die dunklen Strähnen aus der Stirn. Nick wirft mir einen besorgten Blick zu, seine hellen Wimpern sind im Neonlicht beinahe weiss. Weiss über den ernsten braunen Augen. Heute lächelt er nicht viel.

"Ich hab keinen Bock, dass du so wie Nastja wirst", sagt Gloria knapp. "Echt nicht. Du hättest es allein nicht hingekriegt. War vielleicht assi, aber sorry, du hast das gebraucht."

"Was? Eine scheiss Panikattacke wegen dir?"

Glorias dunkle Augen sehen für einen Moment nicht ganz so spöttisch aus. Sie fährt sich verlegen über die roten Lippen, die Farbe bleibt an ihrem Zeigefinger hängen.

"Nein, tut mir leid, das wollt ich nicht. Wirklich nicht."

"Du machst mir Angst", meine ich matt. "Du bist immer so fucking wütend."

"Ich weiss", sagt Gloria trocken, den Blick auf unsere Knie gerichtet. "Es tut mir leid. Willst du jetzt Döner essen gehen oder nicht?"


Was haltet ihr von Gloria und Nick?

Ich habe erfolgreich den ersten Teil meines Physikums überlebt (0/10, kann's nicht empfehlen) und habe jetzt endlich Ferien. Bitte entschuldigt, dass so lange nichts gekommen ist, – ab jetzt geht's wieder regelmässiger voran. 

Spätestens nächste Woche geht's dann mit Luis wieder weiter :)

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