"Nein, Andreas bleibt hier. Was ist dein Problem, Frank? Wir verstehen uns blendend", wiederholt Nick scharf und lässt die Beine von der Bettkante sinken.
"Mein Problem ist, dass dieser Junge ernsthafte Probleme hat und ich nicht will, dass du da mit hineingezogen wirst", entgegnet mein Erzeuger plötzlich wieder gefasst, ohne mich auch nur anzusehen.
Ich sehe aus dem Augenwinkel, wie Nicks Vater mit dem kleinen Mädchen leise den Raum verlässt, um dem Streit zu entgehen. Seine Mutter folgt ihnen nicht, sie fixiert bloss den Mann ihrer Schwester mit funkelnden grauen Augen.
"Es ist meine Sache, ob ich da hineingezogen werde. Woher kennt ihr euch?" Der blonde Student wirft mir einen fragenden Blick zu, doch ich schweige. Mein Vater ebenso. Stattdessen antwortet seine hübsche braunhaarige Frau, die um Lichtjahre jünger aussieht als meine Mutter. Zumindest jünger als das Skelett meiner Mutter mit ihren heissgeliebten Heroinspritzen in der Hand.
"Er hat vorgestern Abend bei uns geklingelt und war völlig verzweifelt", sagt sie behutsam, mit einem verlegenen Blick in meine Richtung. Es ist ihr sichtlich unangenehm das vor mir zu erzählen.
"Er hat sich komplett verrückt benommen", wirft der Mann mit denselben Haaren wie ich sie habe. Locken, braune Locken, die sich kaum kämmen lassen.
Seine Frau fährt herum und wirft ihm einen tödlichen Blick zu.
"Du." Sie holt Luft. "Du hältst jetzt einfach mal deinen Mund! Es ist deine schuld, dass das Kind hier liegt, du hast ihn verdammt nochmal die Treppe hinunter geschubst. Eine scheiss Steintreppe!"
Die Tür knarzt, als der namenlose Polizist ins Zimmer tritt und sich mit angespannter Miene umsieht. Mit einem Seitenblick in meine Richtung lehnt er sich an die Wand neben dem kleinen, nicht wirklich sauberen Waschbecken. Die Handschelle an meinem Gelenk fühlt sich plötzlich wieder ungemein präsent an. Kalt und hart und ohne Ausweg.
"Leah, er war ausser sich. Er hätte jemanden verletzen können", fährt der Mann mit den braunen Locken deutlich gefasster fort.
"Hör auf. Ich bin nicht blöd. Er sieht aus wie du", antwortet sie ihm mit resignierter Stimme und betrachtet mich eindringlich.
Für einen Moment wird es still im Raum. Alle Blicke wechseln zwischen mir und meinem Erzeuger hin und her. Mustern unsere Haare, die ähnlichen Gesichtszüge, die komplett verschiedenen Augen. Der Polizist runzelt die Stirn. Nicks braune Augen strahlen absolute Überraschung aus.
"Es stimmt, nicht wahr? Das ist dein Sohn", fragt Leah leise und dreht sich nach mehreren Sekunden, in denen sie ihren Mann flehend angesehen hat, kopfschüttelnd zu ihrer Schwester um.
"Ich war mal sein Sohn", rutscht es mir trocken hinaus. Vielleicht war ihm mal wichtig. Jetzt bin ich jedenfalls nichts weiteres, als ein ungewolltes Nebenprodukt.
"Du weisst nicht, was passiert ist. Ich musste gehen", sagt Vater. Er sieht mich dabei nicht an, nur Leah.
Ich kann ein abschätziges Lachen nicht unterdrücken.
"Du musstest gehen?"
Er wendet sein Gesicht wieder mir zu, ohne die lodernde Wut in seinen Augen verbergen zu können.
"Es mag vielleicht nicht in dein kindliches Märchen von Gut und Böse passen, aber ich hatte durchaus meine Gründe."
"Oh, ich wäre durchaus erfreut, wenn du mich aus meiner kindlichen Unwissenheit befreien würdest, indem du mir deine Gründe schilderst", gebe ich zutiefst sarkastisch zurück, während das schwarze Loch in meiner Brust wächst und wächst. Er bereut es nicht. Keine Spur.
"Ich habe keine Verpflichtung dazu", meint er spöttisch und wendet sich Nick zu.
"Ich würde dir abermals vorschlagen, das Zimmer zu wechseln."
"Ich denke, du solltest dir diesen Vorschlag zu Herzen nehmen und gehen", antwortet der blonde junge Mann und macht eine auffordernde Handbewegung Richtung Tür.
Er nickt mit betont freundlicher Miene.
"Gute Besserung, Nick."
Er tritt aus dem Raum und Leah folgt ihm mit energischen Schritten hinaus in den Flur.
"Er ist dein Vater?", fragt eine sanfte Stimme in die merkwürdige Stille, die sich in dem kleinen Krankenzimmer ausgebreitet hat. Nicks Mutter betrachtet mich mit demselben warmen Blick, den ich auch von ihrem Sohn kenne.
"Zumindest genetisch gesehen", sage ich mit einem gezwungenen Lächeln, während mir die Tränen in die Augen schiessen. Mitleid macht alles nur noch schlimmer. Unter ihrem Blick habe ich das dringende Bedürfnis mich fest in meine Decke zu wickeln, zu einer menschlichen Kugel zusammenzurollen und zu weinen, zu schreien, zu schlagen, bis sich alles endlich wieder erträglich anfühlt.
Nicht gut, nur erträglich.
"Es tut mir leid", sagt Nick behutsam und erhebt sich wackelig von seinem Bett. Bevor er einen Schritt auf mich zu machen kann, hebt der Polizist mahnend einen Arm und tritt dazwischen.
"Was denn? Er hat weder eine freie Hand noch einen Grund um mich zu schlagen", zischt Nick genervt und wirft dem Beamten einen vernichtenden Blick zu.
"Das ist Sicherheitskonzept, sorry."
"Vorher hätte ich ganz bequem zu ihm hingehen können, wo liegt das Problem?", beschwert sich der Student und lässt sich augenverdrehend wieder auf sein Bett fallen.
"Er hat dich und deine Mutter verlassen?", fragt seine Mutter mit abermals warmer, einfühlsamer Stimme. Ich nicke bloss.
"Es ist schon eine Weile her. Ich habe ihn vorgestern zum ersten Mal seit mehr als zehn Jahren gesehen."
"Und dann hat er hat dich eine Treppe hinuntergeschubst?" Nicks Gesichtsausdruck ist ernst, doch es schwingt ein Hauch von Unglauben in seiner Stimme mit.
Ich nicke erschöpft. Manchmal wäre es nicht schlecht, wenn Menschen Gedanken lesen könnten, dann müsste ich nicht versuchen, ihnen die quälenden Gefühle und meine traumatisierenden Erinnerungen Mal für Mal zu erklären. Und meine Unschuld beweisen müsste ich auch nicht.
"Weshalb?"
"Bitte, ich habe heute schon ein fünfstündiges Verhör hinter mir. Ich würde es vorziehen, nicht mehr darüber zu reden", sage ich leise und blicke Nick verlegen an.
"Tut mir leid, ich...äh...es ist nur alles sehr...überraschend", meint er entschuldigend und faltet seine Beine zum Schneidersitz. Der Polizist kreuzt die Beine übereinander und beobachtet uns wortlos.
"Vielleicht morgen", schiebe ich beinahe unhörbar nach und schliesse müde die Augen. Für eine Weile lausche ich noch den leisen Stimmen von Nick und seiner Mutter, bis schliesslich die Tür zufällt und es plötzlich gespenstisch still im Zimmer wird.
Ich sehe mich vorsichtig um, doch der kleine helle Raum ist komplett leer. Ich bin alleine. So alleine, wie ich im Leben auch bin. Ich bin ein winziges Stückchen Leben ohne Ziel und ohne Sinn auf dieser Welt.
Und ich ersticke. Ich ertrinke in einem Meer. In einem Meer aus Tränen.
Und jetzt geht es wieder hier weiter :)
Danke vielmals an alle, die hier kommentieren und abstimmen, ich liebe euch!
DU LIEST GERADE
Schattenfall
Teen FictionDrogen in der Keksdose, blaue Flecken von Mamas Liebhaber, blutige Zähne und schlechte Noten in der Schule. Andreas hält nicht viel von seinem Leben. Aber sterben scheint schwieriger zu sein, als gedacht. Besonders als Nick zum ersten Mal sein trist...