Kapitel 88. Blutsbande

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"Ich kann alleine", sage ich, als Danny mich bis vor die eingedellte metallene Tür mit der Aufschrift WC Herren begleitet. Mein Betreuer sieht mich zweifelnd an, die Hand bereits auf dem Knauf. 

"Sicher, Tres?"

"Ich werd mir nichts antun, versprochen", erwidere ich matt und lehne mich gegen die gelblich verfärbte Wand, um den aufkommenden Schwindel zu mildern. "Ich hab eh keine Möglichkeit dazu."

Der Sozialarbeiter furcht besorgt die Stirn. Ich lasse meinen Blick an ihm vorbeischweifen, rüber zum Hauptflur, wo die Verhandlungssäle liegen. Ein Justizbeamter steht einsam und breitbeinig da vorne. Vielleicht gehört er zu meinem Fall, vielleicht auch nicht. 

"Tres, das ist nicht meine Sorge. Du bist grade einfach sehr bleich. Bist du sicher, dass du nicht lieber noch mal zum Arzt rüber willst?"

"Nein", meine ich schroff und wische mir mit dem Anzugsärmel den Kaltschweiss von der Stirn. "Ich will einfach kurz hier auf Klo."

Danny verzieht den Mund, seufzt, nickt, seufzt wieder. 

"Ich warte hier draussen, falls du etwas brauchst."

Ich nicke stumm. Meine Arme scheitern beinahe daran, die schwere Metalltür zu den Toiletten aufziehen, ich drücke sie hinter mir zu und stürze zum nächsten Klo rüber. Das Erbrochene kommt hoch, bevor ich mit den Knien ganz den kalten Fliesenboden berühre. 

"Fuck", flüstere ich, die Magensäure brennt in Nase und Rachen. Mein Bauch krampft sich schmerzhaft zusammen, als ein weiterer Schwall hochkommt. Es stinkt nach Galle. Ich klammere mich am Schüsselrand fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, und bete, dass Danny nicht reinkommt, um nach mir zu sehen. Ich hab keine hohen Ansprüche mehr, was Würde angeht, keine eigentlich. Aber der Gedanke, dass er mich so sehen muss, sich um mich kümmern muss, weil das seine Arbeit ist, ist mir zuwider. Mama hat sich oft übergeben. Sie hatte eine Weile lang sehr langes Haar, ich hab es ihr immer zurückgehalten, gewaschen manchmal, als sie selber nicht mehr mochte. Ich hab es gehasst. Wirklich wirklich gehasst. Und gleichzeitig habe ich mich so dafür geschämt, dass ich es gehasst habe. 

Es ist seltsam still, als ich mich wieder aufrichte und mir den Mund mit einer Handvoll Klopapier abwische. Das laute Rauschen der Spülung vermischt sich mit dem beständigen Rauschen in meinem Kopf. Ekelhaft, denke ich erschöpft und schliesse für einen Moment die Augen. Ohne das bisschen Nahrung in meinem Magen fühle ich mich nun mehr tot als lebendig. 

Wieder aufzustehen ist schwer. Ich taumle und stütze mich einhändig an der grauen Kabinenwand ab, auf der dreimal ACAB eingeritzt ist und einmal ein Pimmel. Seltsamerweise fällt mir das Atmen nun leichter, ohne Danny, der mir versucht zur Seite zu stehen. Alleine bleibt mir gar nichts anderes übrig als Luft zu holen und die paar Schritte zu den Waschbecken rüber zu machen. Ich drehe den kalkfleckigen Hahn voll auf. Das Wasser ist heiss, zu heiss, und es lässt sich nicht kälter drehen. Es schmerzt auf meiner Haut und verbrennt mir den Mund, bis der Geschmack von Gallensäuren restlos verdampft ist. 

Als ich den Kopf wieder hebe, schlagen mir die schweren nassen Locken ins Gesicht. Gleichzeitig mit dem klebrigen dunklen Haar in meinen Augen färbt sich mein Sichtfeld rot, dann schwarz. Ah nein, denke ich noch frustriert, fasse blind nach der Kante des Waschbeckens. Meine feuchten Finger rutschen am Porzellan aus und greifen kurz ins Leere, bevor ich noch den Hahn zu fassen kriege. Im nächsten Moment knallt meine Schläfe mit voller Wucht gegen die harte Kante, als ich unkoordiniert mit den Knien auf den Boden treffe. 

"Ah fuck", murmle ich resigniert und lasse den metallenen Kran los, um eine Hand an die schmerzende Schläfe zu drücken. Hoffentlich hat Danny das nicht gehört. Auf dem Boden ist Blut. Natürlich kommt es aus meiner Nase. Erschöpft drücke ich sie mit einer zittrigen Hand zu und hebe den Kopf, um nach Papiertüchern zu sehen. Es gibt keine, nur ein einsamer elektrischer Handtrockner steht an beiden Eingängen. 

Ernüchtert rutsche ich auf die Knie rüber, um mich wenigstens nach vorne beugen zu können und Blutflecken auf dem niveaweissen, gemieteten Anzugshemd zu vermeiden. Taschentücher wären praktisch, oder wenigstens Klopapier in Griffnähe. Ich zwinge mich dazu, aufzustehen, die Finger fest auf beide Nasenflügel gepresst, bevor Danny auf den Gedanken kommt, nach mir zu sehen. 

Die Tür knarzt beinahe im selben Moment. Das Blut, das zwischen meinen geschlossenen Fingern durchrinnt, verpasst mein Hemd nur knapp, als ich hastig den Kopf hebe.

"Ah", meint mein Vater überrascht und bleibt mit genug Abstand stehen. Ich senke fluchtartig den Blick, bin viel zu müde für das hier. Zu müde, um wütend zu sein, oder überhaupt irgendwas ausser erschöpft. Und verängstigt. Als er einen weiteren Schritt auf mich zumacht, zucke ich instinktiv zurück, wie ein verwundetes Tier, die Hand fest auf die blutige Nase gedrückt. Wann ist das passiert? Das mit der Angst. Es ist mir vorher nie aufgefallen. Vielleicht als er mich die Treppe runter geschubst hat, das tat wirklich weh, wirklich furchtbar weh. 

Vielleicht ist es auch einfach nur rational. Wir sind zum ersten Mal allein, ohne Zuschauer. Ich hab den Hass in seinen Augen gesehen, auf der Treppe, im Krankenhaus. Er hasst mich. Ich habe seine perfekte, kleine Familienidylle zertrampelt in dieser Nacht. Er wird gegen mich aussagen, aber wer weiss, vielleicht ist ihm das nicht genug Rache. Es wäre dumm, wirklich dumm, natürlich würde er mir nie physisch etwas antun. Trotzdem bin ich mir unter der flackernden Beleuchtung der sterbenden Neonleuchten plötzlich nicht mehr ganz sicher, ob das nicht eine Fehleinschätzung ist. 

Er macht einen Schritt auf mich zu, ich mache einen zurück. Das Waschbecken drückt in meine Hüfte. Ich schlucke fest, fühlt sich an, als würde ich Blut trinken. Er beobachtet mich einen Moment lang schweigend, mit denselben Augen, die mich jahrelang aus dem Foto am Kühlschrank angestarrt haben. Eigentlich ist das der einzige Bezug, den ich zu ihm habe. Ich kann mich nicht daran erinnern, wie er als mein Vater war. Er und Samuel sind gesichtslose Figuren, die mich seit mehr als einem Jahrzehnt im Schlaf verfolgen. Sie sehen aus wie ich, Papa mit denselben dunklen Locken, Samu eine exakte Kopie von mir. Sie gehören zu mir, ganz offensichtlich, und doch tun sie's nicht. 

Mein Vater sagt nichts. Er geht an mir vorbei rüber zur Toilette und schliesst mit einem leisen Klicken die Tür. Ich bleibe sprachlos stehen, das Blut tropft von meiner Handfläche auf die weisse Keramik und rinnt hastig den Abfluss hinab. Blut war in meiner Familie schon immer dünner als Wasser, immer leicht vergossen und verflossen. 

Es rauscht, als er die Spülung betätigt, aus der Kabine tritt, sich die Hände am Waschbecken neben mir wäscht, als wäre es das Normalste der Welt. Dann hält er inne, als sich unsere Blicke treffen, kramt in der Hosentasche rum. "Hier", sagt er und wirft mir eine Packung Taschentücher in die Spüle, bevor er zum Händetrockner rüber wechselt. 


Was haltet ihr von Tres' Vater? 

Und Tres? Könnt ihr nachvollziehen, weshalb er Dannys Unterstützung manchmal meidet? 

Entschuldigt bitte die lange Wartezeit, – durch das ganze Drama mit Wattpad und den gelöschten Büchern ging alles viel länger, als erwartet. Und danke für alle Kommentare und Votes, ohne die hätte ich bestimmt nicht mehr weitergeschrieben.

Aber jetzt bin ich wieder da und das nächste Kapitel hier kommt sicher nächste Woche :))

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