Kapitel 89. Papa

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"Herr Stern", sagt die Vorsitzende konsterniert, als ich ihr ihm Flur begegne, ein durchtränktes Taschentuch gegen die Nase gepresst. "Geht es Ihnen gut?"

"Ja", erwidere ich mit einem gezwungen einseitigen Lächeln und schüttle Dannys warme Hand von meiner Schulter. "Ich habe oft Nasenbluten."

Sie verzieht kaum eine Miene angesichts meiner Lüge. "Wollen Sie wirklich weitermachen?", fragt sie stattdessen mit der strengen Freundlichkeit einer Grundschullehrerin.

"Ja", wiederhole ich matt. Meine Schläfe pocht, aber mein Kopf fühlt sich klarer an als noch zuvor. Jetzt aufzuhören wäre ein Sieg für meinen Vater und den gönne ich ihm nicht. Ausserdem habe ich in meinem Leben genug Schädelhirntraumata gehabt, um einschätzen zu können, dass meine Kopfschmerzen eher harmlos sind. 

Die Richterin mustert mich einen Moment lang scharf. Fühlt sich so an, als könnte sie durch mich durch sehen, durch jede kleine Lüge, die ich ihr aufgetischt habe, die ich je irgendwem aufgetischt habe. 

"Sie müssen sich nicht dazu zwingen weiterzumachen", sagt sie knapp. "Sie sind hier vor einem Jugendgericht, allen Anwesenden ist klar, dass sie noch kein Erwachsener sind und diese Situation für Sie entsprechend umso belastender ist."

"Danke", bringe ich betreten hervor, komme nicht umhin, das halbkoagulierte Blut in meiner Nase dafür hochzuziehen. "Ich will gerne weitermachen. Damit es bald vorbei ist."

"In Ordnung", sagt die Vorsitzende und sieht mir dabei direkt in die Augen. Adrett geschnittenes ergrautes Haar, heller scharfer Blick, Haut gealtert mit tausend kleinen Malen. Ich kann mir ihr Gesicht nicht klar merken, es sieht in jedem Winkel anders aus. Ich vergesse es schlagartig wieder, als sie mit flatternder Richterrobe an mir vorbei in den Verhandlungssaal tritt. 

Danny stellt meine Entscheidung ausnahmsweise nicht infrage. Er reicht mir bloss ein neues Taschentuch, seine warme Hand liegt dabei wie angekleistert auf meinem linken Schulterblatt. Ich habe ihm nicht erzählt, dass ich dort drinnen Papa getroffen habe, auch nicht von allem anderen. Nur ein einfaches Nasenbluten, hab ich ihm gesagt. Ich weiss, dass er davon nicht restlos davon überzeugt ist, aber er ist gnädig genug, nicht weiter nachzufragen. 

"Hier Tres", bemerkt er nun, als wir beide wieder auf den unbequemen Kunstholzstühlen sitzen und schiebt mir eine angebrochene Tafel Schokolade rüber. Die Vorstellung von Nahrung an sich ist mir zuwider, aber Dannys durchdringender Blick und das bittere Gemisch von Seife und Blut und Galle in meinem Rachen überzeugen mich, dass zumindest eine Reihe davon doch eine gute Idee ist. 

"Danke", sage ich leise. Er hebt kurz die Mundwinkel. 

Das Blut tröpfelt noch immer wie aus einem undichten Wasserhahn aus meiner Nase, als die Vorsitzende schliesslich aufsteht. Ich gebe den Kopfwehtabletten die Schuld, die ich in den letzten Tagen in rauen Mengen konsumiert habe.

"Bleiben Sie nur sitzen, Herr Stern", sagt die Richterin, als sich der Saal scharrend wieder erhebt. "Das Gericht wird nun die Zeugenvernehmung in Sachen Andreas Stern wieder aufnehmen. Es ist nun 15:30. Das Gericht ruft Herrn Frank Frei als Zeugen auf."

Ich drücke den Stressball in meine Handfläche, als mein Vater den Raum betritt und sich an seinem designierten Platz niederlässt. Er sieht mich nicht an, während er die paar Standardfragen zu Name und Adresse beantwortet. Zu seiner Arbeit als Ingenieur, Zivilstand. Glücklich verheiratet, sagt er. 

"Wie viele Kinder haben Sie, Herr Frei?"

Er zögert einen Moment lang, streicht sich ein paar Mal über die weissen Hemdsärmel. 

"Ich habe...vier...gezeugt", meint er dann, schluckt deutlich hörbar im Mikrofon. 

Die Richterin nickt. "Wie heissen Ihre Kinder?"

SchattenfallWo Geschichten leben. Entdecke jetzt