Kapitel 24. Verzweiflungstat

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Befremdet starre ich ihn noch einige Sekunden an, bevor der Polizist auffordernd die dunklen Augenbrauen anhebt.

"Ich...ich weiss nicht genau, es ist alles etwas unscharf...", beginne ich zögerlich. Er nickt, schweigt aber erwartungsvoll.

"Ich...hatte...wir hatten eine Sitzung, eine Gruppentherapie-Sitzung und ich sollte Jonas holen gehen..."

"Wer ist Jonas?", fragt Falc, obwohl ich mir einer Sache sicher bin und zwar der, dass er genau weiss, wer Jonas Treysen ist. Oder war. 

"Mein Zimmernachbar, Jonas Treysen", murmle ich unbehaglich und werfe Aaron einen vorsichtigen Blick zu. Es fühlt sich immer mehr so an, als wollten sie mich auf dünnes Eis hinauslocken. Immer weiter, hin und her, bis ich nicht mehr weiss wo ich bin. Und dann knirscht es unter meinen Sohlen und die erstarrten Zusammensetzungen aus Wasser- und Sauerstoff brechen unter mir weg. Das eisige Wasser krallt sich erst meine nackten Füsse, dann meine Beine, meine Brust. Meine Nase taucht unter, die Luft weicht aus meinen Lungen.

"Andreas!"

Das Eiswasser tropft aus meinem Haar, als ich den Kopf hebe und auf die dunkelbraunen Augen treffe, die zu der Hand mit dem Notizblock gehören. Ich reibe mir die Augen und verharre dann schweigend, das Gesicht von den Handflächen verborgen.

"Alles in Ordnung?"

Ich will nicht mehr. Er soll endlich still sein. Seine Stimme ist zu laut, nervig. 

"Hey, Andreas!"

Eigentlich will ich einfach so sitzen bleiben, lange, aber ich hebe trotzdem den Kopf und begegne Falcs eindringlichem Blick. 

"Wir sollten eine Pause einlegen", meint er dann ruhig und schenkt Wasser in das Glas auf dem kleinen Nachttischchen ein. Ich trinke es aus, obwohl ich die Kohlensäure nicht leiden kann. 

Falc erhebt sich und wandert durch das kleine Zimmer zur Tür. 

"Ich komme in fünf, sechs Minuten wieder, ja?"

Er schlendert an Aaron vorbei und mir entgeht nicht, wie sich die Finger der beiden für den Bruchteil einer Sekunde verschränken. Ich frage mich, ob Aaron für ihn wohl dieselbe verkorkste Scheisse machen würde, wie ich für Mama.

Der blonde Polizist gibt sich Mühe, mich nicht offensichtlich anzustarren, doch er scheitert gehörig daran. Immer wieder spüre ich den Blick seiner hellen Augen auf mir, schaffe es nicht einen klaren Gedanken zu fassen.

Falc tritt gefühlte Sekunden später wieder in den Raum und mein Kopf fühlt sich ebenso chaotisch an, wie zuvor. Als wäre er voll mit wirbelnden gefrässigen schwarzen Löchern, die alles mit Lichtgeschwindigkeit umherschleudern bevor sie es anschliessend auf ewig verschlucken.

Der Kriminalkommissar lässt sich neben mir auf den Stuhl nieder, ich spüre, wie er mich für eine Weile nur nachdenklich beobachtet.

"Woran denkst du?"

"Ich habe sie nicht getötet", presse ich hervor, bemüht darum, die Tränen zurückzuhalten.

"Das habe ich nie gesagt", meint der Polizist.

"Aber ihr glaubt es..."

"Weshalb glaubst du das?" Er beugt sich etwas nach vorne, die braunen Augen leicht zusammengekniffen.

Als ich nicht antworte, seufzt Falc ruhig: "Dann tut es mir leid, das sollte nicht so rüberkommen. Es geht nur darum, unsere Angaben zu überprüfen. Du gehörst immer noch zu den Tatverdächtigen, deshalb muss ich dich das fragen."

Ich nicke stumm. Tatverdächtig. Eigentlich spielt es keine Rolle mehr, ob ich ins Gefängnis komme oder nicht, mein Leben ist ohnehin sinnlos. Eigentlich sollte ich Mamas Mörder finden, ihn zur Rechenschaft ziehen. Aber was würde das bringen? Sie ist tot, mausetot.

"Kann ich weiter machen?", fragt Falc mit besonnener Miene.

Ich nicke.

"Du wolltest Jonas holen gehen. Was ist dann passiert?"

"Ich...habe das Zimmer betreten und...Jonas lag auf dem Boden und...da war Blut?"

Es klingt wie eine lächerliche Frage. Wie ein Erinnerungstest.

"Und dann?"

"Ich bin...zu ihm hin und dann...waren da plötzlich diese Erinnerungen."

"Was für Erinnerungen?", fragt er, obwohl er sicher genau weiss welche.

"An meinen Bruder, meinen Zwillingsbruder. Samuel. Er wurde weggeschleudert, vom Auto."

Merkwürdigerweise geht Falc nicht weiter auf dieses Thema ein, sondern nickt knapp.

"Was hast du dann getan?"

"Ich habe ihm die Rasierklinge aus der Hand genommen und sie in seinem Tagebuch versteckt", meine ich kühl und beobachte, wie sein Gesicht für einen kurzen Moment überrascht zusammenzuckt.

"Weshalb?", fragt der junge Mann beherrscht.

"Sie kennen meine Krankenakte, oder? Vielleicht hätte ich sie ja noch gebraucht", antworte ich mit neugewonnenen Spott in der Stimme.

Falc lässt sich davon nicht beeindrucken, er notiert etwas auf seinem Block und meint nur: "Und dann?"

"Und dann bin ich irgendwie gegen das Bettgestell geknallt und ohnmächtig geworden." 

Auch hier lässt er davon ab, weitere Fragen zu stellen und wirft mir nur einen auffordernden Blick zu.

"Dann hat mich ein Sanitäter gesehen und ins Krankenhaus gebracht."

"Kanntest du ihn?"

"Nein", murmle ich verwirrt.

"Und danach? Wollte er dich zurückbringen?"

"Ja", antworte ich zögerlich. 

"Aber du bist nicht zurückgekommen...?"

Ich nicke. 

"Wie bist du aus dem Auto gekommen?"

Ich gerate ins Stocken. Ich will den Sanitäter nicht verraten, besonders nun, wo er auch in die Mordermittlungen hineingezogen werden könnte.

"Ich habe die Tür geöffnet", meine ich trocken und wende den Blick ab.

"Hat er dich rausgelassen?"

Es war offensichtlich, dass das kommen würde und doch habe ich keine passende Ausrede dafür.

"Er hat dich also rausgelassen: Weshalb?"

"Er...wollte mir helfen..."

"Glaubst du, es ist schlau jemanden, der suizidgefährdet ist, einfach gehen zu lassen?"

"Ich hatte nicht vor mich umzubringen. Er wollte mir helfen...herauszufinden, was mit meiner Familie passiert ist. Ich habe ihm vorher davon erzählt."

"Er wollte dich bei sich wohnen lassen?"

"Ja", meine ich verblüfft. 

Falc stützt den Kopf in seine linke Handfläche und kritzelt etwas Unlesbares aufs Papier.

"Philipp Ruotsalainen hat sich bei uns gemeldet, als du nach mehreren Stunden nicht wiedergekommen bist", sagt er salopp und wirft mir einen forschenden Blick zu.

Verdattert hebe ich den Kopf und Falc lässt sich mit einem interessierten Ausdruck nach hinten sinken.

"Es ist ein blöder Zufall, dass du etwa zur Tatzeit auf freiem Fuss warst", fasst der Kommissar meine Lage knapp zusammen. 

"Ich...ich habe den Rettungsdienst gerufen...", flüstere ich erschöpft. "Ich habe den Rettungsdienst gerufen, als ich sie gefunden habe..."

"Ich weiss, ich habe die Aufnahme gehört. Aber du hast aufgelegt und bist abgehauen. Woher weiss ich, dass du deine Mutter nicht in einem Anflug von Wut und Verzweiflung erstochen und es danach bereut hast?"


Es geht endlich weiter :)

Vielen Dank, dass ihr dieses Buch liest!






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