Kapitel 54. Ok

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Danny lächelt mir gütig zu. 

"Guten Morgen, Andreas. Setz dich doch zu uns. Was willst du trinken?"

"Ich...trinke Wasser", murmle ich und nehme mir ein Glas aus dem Schrank, um den Blicken meiner neuen Mitbewohner zu entgegen. Die letzten beiden Tage habe ich keinen von ihnen zu Gesicht bekommen, nur am Abend gedämpft ihre Stimmen durch die Tür gehört. 

Der Sozialarbeiter zieht den Stuhl neben sich zurück und klopft auffordernd auf die mattgraue Oberfläche. Wortlos lasse ich mich zwischen ihn und einem Mädchen mit kurzen, dunklen Haaren, Stirnfransen und ebenso dunklen Augenringen sinken. Sie starrt auf die Schüssel vor sich, als ich sie ansehe.

"Das ist Nastja", sagt Danny, ohne abzuwarten, ob sie sich vielleicht selbst vorstellt. Nastja nickt abwesend und versenkt ihren Löffel tief in der Milch ihres Müslis. Ihre Sitznachbarin, die eine ansehnliche Menge an langen, braunen Haaren besitzt, schnaubt, als der Betreuer sie erwartungsvoll ansieht.

"Und das ist Gloria. Mit schlechter Laune offensichtlich", sagt er schliesslich mit einem Seufzen. Die dritte Person am Tisch macht sich immerhin die Mühe, mich kurz anzusehen, bevor er sich wieder seinem Handy widmet. 

"Ivo", sagt er knapp. Er sieht beunruhigend durchschnittlich aus, mit kurzem dunkelblondem Haar, Nike-Pulli und genervtem Gesichtsausdruck. Gloria eigentlich auch. Nur Nastja scheint dem Stereotyp eines betreuungsbedürftigen Kindes voll und ganz zu entsprechen. Der vierte Bewohner der Wohngemeinschaft scheint keine Erwähnung wert zu sein und auf den vielen Gruppenfotos am Kühlschrank sind zu viele Menschen zu sehen, als dass ich ihn identifizieren könnte.

"Andreas?"

Erschrocken fahre ich zusammen. Danny mustert mich besorgt. 

"Was willst du essen?"

"Nichts. Hab schon die Zähne geputzt", wehre ich ab und nehme einen Schluck Wasser, um mich nicht rechtfertigen zu müssen. Er sagt nichts dazu. Die nächsten zehn Minuten sagt niemand etwas, nur Nastjas leises Schlürfen ist zu hören. Dann hebt Gloria abrupt den Kopf, die langen Haare fallen in einer dichten Welle nach hinten. Ihre braunen Augen funkeln triumphierend. 

"Gewonnen."

Der Betreuer seufzt und lässt das Handy sinken. 

"Okay okay. Ich gehe einkaufen."

Er grinst, als er meinen verwirrten Gesichtsausdruck bemerkt, dann schiebt er mir sein Telefon rüber. Auf dem Bildschirm flackert ein Wortspiel auf, ähnlich wie Scrabble vielleicht, ein roter Schriftzug mit den Worten "you lose" bedeckt das Ganze.

"Ab und zu lasse ich mal jemanden gewinnen", sagt er mit einem hämischen Seitenblick auf Gloria, die bloss die Augen verdreht. "Du darfst dich natürlich gerne daran beteiligen."

"Tu es nicht", wirft Ivo kopfschüttelnd ein. "Gloria versucht bloss dir den Abwasch aufzudrücken."

Ich ringe mir ein mattes Lächeln ab, als Danny mahnend einen Zeigefinger in ihre Richtung hebt. Es fühlt sich nicht richtig an, zu lachen, ich bin hier bloss ein Zuschauer. 

"Heute Abend ist wieder Wechsel, nicht vergessen", sagt er dann mit einem Blick auf die Uhr. Er meint Betreuerwechsel, ein wenig wie im Krankenhaus. 

"Mit Jamie?", fragt Nastja und ihre leise Stimme passt perfekt zu ihrem Aussehen. Wie ein kleiner, kaputter Vogel. Er nickt. Nie im Leben ist sie älter als fünfzehn.

"Bringt sie Karamell mit?"

"Ihr Hund", wirft Ivo dankbarerweise ein und steht mit einem Seufzen vom Tisch auf. 

"Ich weiss es nicht. Soll ich sie fragen?"

Nastja zuckt mit den Schultern, den Blick immer noch gesenkt. Wie ich. Aus den Augenwinkeln lässt sich die Welt gefahrloser beobachten. 

"Ich schreib ihr nachher", sagt Danny mit einem Lächeln. "Ich fahre Andreas nachher zum Gymnasium, soll ich dich mitnehmen, Gloria?"

"Nein, ich laufe."

"Dann mach aber hinne, am ersten Schultag kommt man nicht zu spät."

"Der erste Schultag im Winter juckt niemanden", sagt Gloria gelassen und beisst in ein weiteres Toastbrot, das sie vorher feinsäuberlich in zwei Dreiecke geteilt hat. Ihre Zähne glänzen vor Weisse. Es kleben Brotkrümel dran. Als sie meinen Blick bemerkt, zeigt sie mir den Mittelfinger.

"Was ist mit dir, Edward Scissorhand? Noch nicht lang genug gestarrt?"

"Gloria, lass ihn in Ruhe." 

Das scheint ihr Stichwort fürs Weitermachen zu sein. Triumphierend grinst sie Danny an, als ob sie ob dieser Ermahnung geradezu aufblühen würde.  

"Was hast du eigentlich getan, um so ne krasse Polizeiüberwachung zu kassieren? Was war's? Vergewaltigung oder Mord?"

"Gloria!"

Ich sage nichts dazu. Nastja auch nicht. Sie rührt immer noch in ihrem Müsli. Es ist nicht weniger geworden. Die Stimmung ist gekippt, hin zu einer trüben Wolke, die wie der Geruch von Essensresten schwer in der Luft hängt.

"Stimmt doch", sagt sie knapp und hebt unbeirrt das Kinn wie ein trotziges Kleinkind. "Ich will nicht mit ihm unter einem Dach schlafen und Nastja auch nicht."

"Nastja hat bestimmt ihre eigene Meinung. Und jetzt hör mit diesem Quatsch auf und geh dich anziehen."

Sie stürmt davon wie eine römische Rachegöttin, die Haare wehend und die Türe hinter sich zuschlagend. Danny seufzt und blickt kurz zu mir rüber, ohne etwas zu sagen. Wir wissen beide, dass sie recht hat. Witzig, wie ich mir mit jedem Tag der geht, mehr wie ein Mörder vorkomme. Ich habe aufgehört zu protestieren, die ganzen stillen und lauten Vorwürfe haben schon lange Wurzeln geschlagen. Ich habe es nicht getan, sagt mein Verstand. Du bist ein Mörder, sagt der kaputte Teil meines Gehirns, der mich am Morgen um Luft ringen lässt.

Danny greift mit einer Hand nach einem der vielen Pläne, die mit Leuchtstift markiert an der Pinnwand hängen und legt ihn vor sich auf dem Tisch. In der rechten Ecke steht mein Name. Mein Stundenplan offensichtlich, eine farbenfrohere Variante vom gefalteten Blatt Papier in meiner Hosentasche.

"Du hast eine Kopie davon, oder?", fragt er und deutet mit einem Finger auf das Teil. Ich nicke wortlos. Regulärer Unterricht bis eins oder zwei, dann Nachhilfe bis halb acht. Wenn ich genau drüber nachdenke, ist mir dieses Abi nächstes Jahr vielleicht doch nicht ganz so wichtig.

"Perfekt. Wir sollten so in ner Viertelstunde gehen."

Ich nicke nochmals mechanisch, doch er sieht bereits wieder auf sein Handy und beachtet mich nicht weiter. Ich nutze die Gelegenheit, um leise vom Tisch aufzustehen und mich zurück in mein Zimmer zu retten. Dieser Tag beginnt nicht gut. Erwartungsgemäss nicht gut. Wann hat ein Tag zuletzt gut angefangen? 

Nicht heute jedenfalls. Ich starre auf die Zahlen auf meinem Handy. Immer noch zehn Minuten, dieser Morgen ist zäh wie Kaugummi. Dann leuchtet eine Nachricht im Halbdunkel meines Zimmers auf.

"Wie geht's?"

Nick schreibt ohne Emojis. Irgendwie erleichtert mich das. Seine tausend Arten zu Lächeln passen nicht gut in ein einziges Zeichen. Auf seinem Profilbild hält er eine lang gestreckte, schwarze Katze, die sich besitzergreifend in seinen Pulli krallt und mit gelben Augen verächtlich in die Kamera blickt. Er grinst, die hellen Haare wie ein Heiligenschein in der Sonne glänzend.

Ich schliesse kurz die Augen, versuche den Schwindel aus meinem Kopf zu verdrängen. 

"Ok", schreibe ich zurück.



Was hält ihr von Andreas neuen Mitbewohner*innen? Meine eigenen sind vor allem gefrässig.

Nächste Woche geht es im anderen Buch weiter. 

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