Kapitel 28. Bitten

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Der braunhaarige Polizist löst mein Handgelenk grob aus der metallenen Fessel. Erleichtert atme ich aus, ziehe den wunden Arm an meinen Oberkörper, bewege die schmerzende Stelle vorsichtig hin und her.

"Kannst du die Beine über die Bettkante schwingen?", fragt er und deutet auf meine rechte Seite. Ich nicke, obwohl ich mir nicht restlos sicher bin, ob das funktioniert, ohne dass ich das Gleichgewicht verliere.

Ich schaffe es zwar mich auf das unbequeme Metallgerüst des Krankenhausbettes zu setzen, doch mit nur einem freien und zitterndem Arm taumle ich ungeschickt zur Seite. Der Polizist greift nach meiner unverletzten Schulter und zieht mich wieder in eine einigermassen erträgliche Lage. Ich spüre Nicks Blick auf mir, doch kann mich nicht zu ihm umdrehen. 

"Ich halte dich, dann kannst du aufstehen", weist mich die Staatsmacht dann knapp an und greift unter meinen gesunden Arm. Unsicher setze ich die Füsse auf den Boden, während ich aus dem Augenwinkel erkenne, wie die Frau von der Pflege sich die weissen Latexhandschuhe überzieht. Auch die eine Hand des Polizisten, die wenige Zentimeter neben meinem Gesicht schwebt, ist behandschuht. Sie wollen mich nicht anfassen, natürlich nicht. An mir klebt Blut und Schweiss und Tränen. 

Mit einem Anflug von Angst komme ich auf die Füsse und spüre im selben Moment, wie mein Blutdruck in die Tiefe rauscht. Meine Sicht verfärbt sich dunkel, tiefrot und dann schwarz, meine Beine geben unter mir nach. 

Ein weiterer Arm schlingt sich um meine Hüfte und verhindert, dass ich zur Seite kippe. Nur Sekunden später ist der ganze Spuk vorbei, die dunklen Flecken verziehen sich und lassen nur einen pulsierenden Kopfschmerz zurück.

"Geht es, Herr Stern?", höre ich Frau Schneller überdeutlich fragen. Nick ist aufgesprungen und macht nun auf Anweisung des Polizisten wieder einen Schritt zurück zu seinem Bett.

"Ja", murmle ich erschöpft und versuche einen weiteren Schritt nach vorne. Den halben Meter bis zum Tisch bringe ich leicht taumelnd hinter mich und sinke erleichtert auf den bereitgestellten Stuhl.

"Guten Appetit", wünscht mir die blaugekleidete Frau, doch es klingt wie eine reine Floskel. Bevor ich mit einem Danke antworten kann, schliesst sich die Tür hinter ihr. 

Der Polizist lehnt sich neben mich an die Wand und lässt mich scheinbar keine Sekunde aus den Augen. Er beobachtet, wie ich ungeschickt den harten Plastik der Wärmeglocke anhebe und das Essen angewidert mustere. Mir ist klar, dass ich etwas essen muss. Es ist schon Tage her, seit ich es getan habe, vielleicht auch nur einen. Ich habe den Überblick über die Zeit verloren.

"Es ist sogar noch ekliger als es aussieht", brummt Nick unzufrieden und stochert in seinem Essen herum. Sein angeekelter Gesichtsausdruck lässt mich unabsichtlich schmunzeln.

"Ich meine, was ist das überhaupt?", fährt er mit Spott in der Stimme fort, als er meine belustigte Miene bemerkt. Er schüttelt heftig den Kopf, so dass seine blonden, halblangen Haaren hin und her wirbeln. 

"Zucchini?", frage ich vorsichtig in Nicks Richtung und werfe dem Polizisten neben mir einen nervösen Blick zu. Er erwidert ihn ausdruckslos, betrachtet dann aber die grünliche Masse auf meinem Teller mit gerunzelter Stirn. 

Versuchsweise nehme ich die Gabel in die Hand und schaffe es mit zitternden Fingern eine kleine Portion zu mir zunehmen. Ich kann mich nicht dazu zwingen, mehr als fünf Gabeln zu essen. Der Anblick des verkochten Gemüses erinnert mich an die Psychiatrie, an die gedrückte Stimmung in der Mensa. Die Übelkeit kriecht wieder meinen Hals hinauf. 

Frustriert schliesse ich die Wärmeglocke wieder, im Versuch den starken Essengeruch loszuwerden.

"Gehst du noch in die Schule?", fragt Nick mit vollem Mund und schluckt den Bissen angestrengt hinunter.

"Theoretisch aufs Gymnasium, ja", murmle ich. "Und du?"

"Ich studiere. Geschichte und Sinologie", antwortet er lächelnd und nimmt noch eine Gabel von seinem Essen. Er ist Student, wahrscheinlich hat er eine tolle Familie, eine nette Wohnung, eine Freundin oder einen Freund, Hobbies. Alles Dinge, die für mich so weit entfernt sind, wie Exoplaneten. Weit weg, in einer anderen Galaxie. 

Ich habe nichts ausser einen Termin beim Untersuchungsrichter und den rötlichen Abdruck einer Handschelle auf meiner blassen Haut. 

Der Polizist betrachtet mein Tablett nachdenklich.

"Keinen Hunger mehr?", fragt er und greift nach den PET-Flaschen auf dem Nachttisch. 

"Nein", sage ich leise und beobachte, wie er Wasser in die Gläser auf dem Tisch eingiesst. Eines für mich und eines für sich. Ohne mich aus den Augen zu lassen, trinkt er es mit gleichmässigen Schlucken aus.

"Danke", bedanke ich mich ehrlich bei ihm und nehme ebenfalls einen Schluck. Das Wasser ist eher lauwarm als kalt und die Kohlensäure, erschwert mir das Trinken. Doch meine Kehle ist so ausgetrocknet, dass sie beinahe schmerzt und so stürze ich das Glas geradezu hinunter. Der Polizist füllt nach. Ich trinke abermals gierig, schlucke die bereitgestellten Tabletten brav.

"Meine Familie kommt heute Abend noch", beginnt Nick, nicht klar an mich oder den Polizisten gerichtet. Natürlich kommt sie. Und morgen wahrscheinlich seine Verlobte und übermorgen seine Freunde.

Der braunhaarige Uniformierte nickt. 

"Das sollte kein Problem sein." Nein, für ihn nicht.

"Was ist mit deiner Familie?", fragt der Blonde vorsichtig und wirft mir einen freundlichen Blick zu. Es fühlt sich an, als würde mein Herz zersplittern und ich habe das heftige Bedürfnis zu weinen. Aber was sollte das bringen? Mitleid, Selbstmitleid, Erleichterung. Es wäre sinnlos.

"Ich habe keine Familie mehr", gebe ich mit matter Stimme zu. Nicks Augen weiten sich für einen kurzen Moment, dann blickt er verlegen auf seine gefalteten Hände und wieder hoch zu mir.

"Es tut mir leid. Ich..."

"Du musst dich nicht entschuldigen", unterbreche ich ihn müde und versuche ein aufmunterndes Lächeln. Der Blick des Polizisten ruht fortwährend auf mir, die dunklen Brauen gerunzelt.

"Sonst...meine Familie muss nicht kommen...", beginnt Nick mit warmer Stimme, doch ich unterbreche ihn abermals. 

"Nein, nein. Mach dir keine Gedanken", sage ich betreten und nehme noch einen Schluck des unangenehm sprudelnden Wassers. 

"Wirklich, das wäre kein Problem."

Ich schüttle den Kopf und drehe mich in Richtung des braunhaarigen Polizisten, dessen graue Augen mir aufmerksam begegnen.

"Könnte ich auf Toilette?", frage ich ihn beschämt, kann ihm beinahe nicht in die Augen sehen. Ich hasse es, Menschen um etwas zu bitten. Es ist erniedrigend, auf die Hilfe eines uniformierten Mannes angewiesen sein zu müssen, um ein Glas Wasser zu trinken oder zu duschen. 

Der Polizist nickt.

"Klar."


Weiter geht's! Vielen Dank an alle, die das hier lesen, kommentieren und dafür abstimmen!

Am Montag beginnt die Uni, ich weiss also noch nicht, ob ich wieder drei Kapitel in der Woche schaffen werde...

Habt einen schönen Abend!






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