Kapitel 43. Zerrspiegel

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Falcs Hand liegt reglos auf dem gelblichen Laminat des Fahrstuhls. Seine schlanken Finger sind zusammengekrümmt, als würden sie etwas kleines, wertvolles unter sich verstecken. Er bewegt sich nicht.

Der Augustwind riecht nach verbrannten Reifen und Blut. Samus Haare zwischen meinen Fingern sind seidig weich, sein Körper drückt in der schnell abkühlenden Abendluft heiss gegen meine Brust. Panik, furchtbare Panik. Samu, Samu, schreit jemand. Die Sirenen sind so laut.

Ich schreie, als mich jemand an den Schultern packt, doch als ich herumwirble, ist da nur mein Spiegelbild in der glattpolierten Liftwand und Falcs zusammengekrümmter Körper. Ich schüttle heftig den Kopf, um mein Gehirn davon abzubringen, abermals ein Flashback in mein Bewusstsein zu schieben.

Ich muss mich konzentrieren, 

Es tut weh, sehr weh, als ich meine Schläfe gegen die Metallverkleidung des Aufzugs schlage, aber der Schmerz bringt mein Gehirn dazu, in die Realität zurückzukehren. Man solle nicht gegen Flashbacks ankämpfen, sagte meine Psychologin immer. Dein Gehirn versucht bisher nicht verarbeitete Traumata zu verarbeiten. Aber mein Trauma scheint die Angewohnheit zu haben, sich durch lebensbedrohliche Situationen triggern zu lassen.

Mir wird schwindelig, als ich mich ungeschickt vor Falc hinknie. Sein dunkles Haar verbirgt den Grossteil seines Gesichts, aber ich stelle erleichtert fest, das sich sein Brustkorb leicht hebt und senkt. Verbissen versuche ich die Binde meines halbwegs funktionsfähigen Armes zu lösen, doch der Verschluss rutscht mir Mal um Mal aus der bandagierten und gebrochenen Hand. Es tut so weh, dass ich Lust habe, mir den Arm abzuschneiden. Als ich schliesslich auch meine Zähne zur Hilfe nehme, löst sich der Klettverschluss mit einem Geräusch, das mich vor Unbehagen schaudern lässt. 

Mein Arm fühlt sich seltsam nackt und fremd an, beinahe so, als wäre er ein eigenständiges Lebewesen. Ein brennender Schmerz fährt durch meine Schulter, als ich ihn nach Falc ausstrecke. 

Konzentrier dich, konzentrier dich endlich. Warum hält dieser verdammte Lift nicht endlich an?

Die Anzeige zeigt "11" an und so drücke ich mit der freien Hand auf die 12. Er hält nicht an, stattdessen setzt er seinen Weg unbeirrt an der 12 vorbei fort. Sollte man bei so etwas den Notfallknopf drücken? Oder nur bei technischen Notfällen?

Ich drücke ihn zweimal und taste dann mit zitternden Fingern nach Falcs Puls, weil ich mir nicht mehr sicher bin, ob ich mir seine Atemzüge nicht vielleicht nur einbilde. Das Pochen, das ich fühle, könnte genauso gut mein eigenes panisch pochendes Herz sein. 

Erste-Hilfe-Position, oder? Stabile Seitenlage. Schwarze Flecken tanzen vor meinen Augen, als ich mich bebend vorbeuge, um immerhin sein Kinn richtig zu positionieren und ihm die dunklen Locken aus dem Gesicht zu streichen. 

Falcs dunkler Mantel ist zurückgerutscht und entblösst die schwarze Waffe, die an seinem Gurt befestigt ist. Ich zögere für eine Sekunde. Der Lift hält und öffnet seine Türen. Kurz kommt ein grauer Flur zum Vorschein, weit und breit ist niemand zu sehen.

Nein. Nicht jetzt. Nicht hier. Verzweifelt schliesse ich die Augen, die Tränen fliessen heiss über meine ausgekühlte Haut. Du würdest eh nicht treffen, du würdest es nicht schaffen.

Nein, es wäre nicht schwer, es wäre schnell vorbei.

Etwas in mir zwingt mich, den Arm nach der Waffe auszustrecken. Nur einmal anfassen, fühlen, wie schwer die Pistole in meiner Hand lastet, wie es sich anfühlt, den kalten Lauf gegen meine Schläfe zu pressen. Sie ist genauso, wie ich sie mir vorgestellt habe. Kalt, viel zu schwer in meiner zitternden Hand. Mein Spiegelbild starrt mich aus geweiteten, überraschten Augen an, als verstünde es nicht, wie es soweit gekommen ist. Die Liftanzeige steht auf 13.

Ich senke die Pistole.

Plötzlich bewegt sich Falc neben mir. Er krümmt sich einmal auf dem klebrigen Boden zusammen, bevor sich mit beiden Armen aufstützt und hustend auf die Knie kommt. Seine dunklen Locken verdecken für einen Moment seine Augen.

"Es tut mir leid", flüstere ich. Die Waffe liegt wie ein drohendes Mahnmal vor meinen Knien.

"Was?", stösst der Polizist überrumpelt aus und hebt abrupt den Kopf, um mich anzusehen. Eine halbe Sekunde später greift er sich an seinen Gurt, dorthin wo vorher die Waffe befestigt war.

Er wirkt beinahe geisterhaft bleich, noch bleicher als zuvor, als er zitternd ausatmet und sich langsam an die spiegelnde Wand des Aufzugs lehnt. Kurz berührt er mit einer Hand seinen Kopf, als ob er quälende Kopfschmerzen hätte, dann schaut er wieder zu mir auf.

"Es tut mir leid, ich wollte...dir helfen, aber ich..."

Der Kommissar betrachtet mich erschöpft, sein Blick wandert einmal von meinem Gesicht zu meiner Hand, die immer noch auf der Waffe liegt.

"Gibst du mir die Waffe?", fragt er leise und streckt seine eine Hand ein paar Zentimeter vor.

Ich kann die Handschellen an seinem Gurt sehen, die Handschellen, die sich wahrscheinlich in wenigen Minuten fest um meine Handgelenke schliessen werden. Falc behauptete immer, dass ich ein guter Mensch sei. Spätestens jetzt wird er eingesehen haben, dass das Quatsch war. Ich bin ein grauenvoller Mensch, einer der andere bewusstlos liegen lässt, um mit dem Gedanken zu spielen, sich umzubringen.

Er wird mir nicht mehr helfen. Ich habe alles kaputtgemacht, wie immer. Oh Gott, ich bin ein kompletter Psychopath.

"Andreas."

Falcs braune Augen fixieren mich, seine ausgestreckte Hand zittert. Er hat Angst vor mir.

"Es tut mir so leid", wiederhole ich schluchzend, während mir die Tränen in die Augen schiessen.

"Es ist alles in Ordnung. Aber gib mir bitte die Waffe."

"Warum lügst du?" Die Tränen nehmen mir die Sicht, alles verschwimmt. Falc zuckt zusammen, als ich mir mit der bewaffneten Hand über die Augen wische.

"Was meinst du?", sagt er ruhig, doch sein ganzer Körper zittert wie im Schüttelfrost. Mir ist klar, dass er mich schon lange überwältigt hätte, wenn er nicht in diesem Zustand wäre.

"Ich habe Angst", flüstere ich verzweifelt.

Falc schliesst erschöpft die Augen und lehnt sich zitternd an der Wand zurück. Er verharrt so, erst Sekunden, dann Minuten. Sein Kinn kippt widerstandslos zur Seite.

"Falc?", frage ich nervös und spüre, wie Panik in mir aufkommt. Er reagiert nicht, nur seine Lider flackern leicht. Vorsichtig lege ich die Pistole auf dem Boden ab und rutsche ein Stück auf ihn zu. In dem Moment, in dem ich eine Hand auf seine Schulter lege, kommt plötzlich Leben in ihn. Er greift hart nach meinem Handgelenk und reisst meinen Arm nach unten, sodass ich mit dem Kopf zuerst nach vorne stürze.

Der Schmerz kommt eine halbe Sekunde später, als mich Falc auffängt und mir beide Arme auf den Rücken dreht. Wimmernd krümme ich mich vor ihm zusammen, als die Handschellen klicken.

"Sh, sh, sh, es wird alles gut", höre ich die Stimme des Kommissars, der mich vorsichtig wieder aufrichtet, die Pistole bereits wieder im Holster. Seine braunen Augen mustern mich mitleidig, als er mich schliesslich an die Wand des Lifts lehnen lässt.

Für einen Moment schaut er mich schweigend an und ich starre wortlos, mit Tränen in den Augen zurück. Dann zückt er sein Handy und der grelle Klingelton eines Anrufs füllt die kleine spiegelnde Fahrstuhlkabine.


Endlich wieder einmal ein Kapitel; ich hoffe es gefällt euch immer noch und ihr seid noch nicht ab meinen unregelmässigen Updates verzweifelt. Nächste Woche geht es mit dem anderen Buch weiter!

Und zuletzt noch: Findet ihr Andreas' Verhalten in dieser Situation nachvollziehbar? Wie hättet ihr reagiert? 


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