Meine Kleider sind nass. Immer noch voller Regenwasser. Und Blut. Es klebt an meinen Händen. An meinen Armen. Meiner Brust. An meinen Knien. Im Gesicht.
Ich vergrabe meine Hände in den Taschen, hetze durch die Nacht, weg vom hell erleuchteten Haus, wo das Blaulicht geisterhaft die Wände hochtanzt und die Sirenen heulen.
Meine Finger ertasten einen feuchten Papierfetzen, reissen ihn heraus. Frank Frei, Leopoldstrasse 14, steht beinahe schon vom Wasser unkenntlich gemacht, darauf. Ich lasse ihn zu Boden sinken, er fällt in eine Pfütze, löst sich bereits langsam in kleine, weisse Fussel auf.
Frank. Papa. Wusste nicht er, was damals vor zehn Jahren passiert war? Wusste er, dass er Mama in die Hände der Drogen gestossen hatte? Ja, wahrscheinlich schon, aber vermutlich wollte er es gar nicht wissen, sonst hätte er uns eines Tages besucht. Wenigstens ein einziges Mal.
Aber das hatte er nicht.
Ich husche in die Dunkelheit der U-Bahn-Station, wo ich mich unter die späten Partygänger, Drogenabhängigen, Bettler, wandelnden Alkoholleichen und Reisenden mische, ohne gross aufzufallen. Die U49 fährt an die Leopoldstrasse, nur wenige Minuten noch, bis die U-Bahn einführe, ich könnte einsteigen, fahren, aussteigen, durch die Strassen wandern, bis ich schliesslich vor seiner Adresse stünde und dann...was dann?
Die U-Bahn fährt vor, quietschend, bauscht sie meine nasse Jacke auf, piepsend öffnen sich, rot blinkend, die Türen. Ich setzte einen Fuss vor den anderen, stolpere mit schwachen Knien auf sie zu, das Gesicht zu Boden gerichtet.
Drinnen schlägt mir Wärme entgegen und ein schwerer Gestank nach Bier und Pisse hängt in der Luft. Wortlos setze ich mich auf einen der leeren Sitze, lehne die klebrige Wange gegen die kalte, dreckige Scheibe und schliesse sekundenlang die Augen. Mamas Gesicht füllt mein Gedächtnis. Ihre leeren grünen Augen, aufgesprungenen Lippen zwischen denen Blut hervorquillt. Blut, so viel Blut, leere Augen, schlaffe weisse Glieder, brechende, knacksende Rippen.
Eine fassungslose Kälte umschlingt mein Herz, scheint es eisern zusammenzudrücken. Ich drücke die Fäuste gegen meine Schläfen, immer fester, ziehe stossweise durch den Mund Luft ein, presse die Augen so fest zusammen, dass kleine orange Punkte im Dunkeln zu tanzen beginnen.
Ich stürze mit einem leisen Schrei nach vorne, federe vom Sitz und taumle blindlings zur Tür, klammere mich an den metallenen Stangen fest und stolpere hinaus, als diese sich mit einem knappen, wiederholtem "Leopoldstrasse" öffnet. Hinaus auf die hell erleuchtete Strasse, mit zierlichen, modernen Laternen, weissen teuren Häusern, die sich am Ende der Strasse zu ebenso hellen, von Gärten umgebenen, Einfamilienhäusern ausdünnen.
Die Nummern hier liegen bereits über 50, nehmen in Richtung der Einfamilienhäuschen ab und so folge ich ihnen, weiche den elegant gekleideten Fussgängern und grossen Familienautos aus. Irgendwann stehe ich davor. Weiss, ein Garten mit wohlgeschnittenen Büschen, mit Garage und grossen, gläsernen Fensterfronten. Frei, Frank, Leah, Leon und Emilie, steht auf der Klingel, die eine leise Melodie von sich gibt, als ich sie drücke.
Es dauert nur wenige Sekunden, bis die Tür geöffnet wird und eine braunhaarige Frau im Kleid mustert mich überrascht.
"Du meine Güte, Junge, was ist denn mit dir passiert? Komm rein! Brauchst du Hilfe? Soll ich die Polizei anrufen?", redet sie mit aufgerissenen, mitleidigen Augen auf mich ein, während sie einen Schritt auf mich zu macht.
Bevor ich antworten kann, unterbrechen mich weitere Stimmen und drei weitere Personen treten ins Licht der Laterne.
"Mama, wer ist das?", quengelt ein kleines Mädchen, mit hellbraunem, spangenversehenem Haar und funkelnden Augen.
"Andreas.", antworte ich und kralle mich in das metallene Geländer der Treppe. "Ich...ich bin Andreas.", murmle ich und schaue zu dem Mann auf, dessen Gesichtsausdruck sich im selben Moment verfinstert. Seine Augen sind nicht grün, sondern braun, beinahe schwarz in diesem Licht, aber seine Haare sind braun, braune Locken, die sich über hohen Wangenknochen ausbreiten.
"Verschwinde!", ist das erste das er zu mir sagt. "Na los, verpiss dich!"
"Frank, was soll das? Der Junge ist verletzt, siehst du das nicht? Wir sollten ihm helfen!", fällt seine Frau ihm ins Wort und erst jetzt erkenne ich die vierte Person die neben meinem Vater steht. Ein Junge in meinem Alter, mit braunem Haar und braunen Augen, die mich interessiert und mit ernstem Blick mustern.
Ich mache einen weiteren Schritt die Treppe hinauf, auf ihn zu, klammere mich mit aller Kraft am Metall fest. Öffne den Mund, um all die Dinge zu sagen, die ich schon so lange aufstaue.
"Weshalb bist du gegangen? Weshalb? Wir hätten dich gebraucht! Mama hätte...", Weiter komme ich nicht, denn er macht einen Schritt auf mit zu, zieht seine Frau von mir weg.
"Was redest du da? Sei still! Verschwinde!", übertönt er mich und stösst mich unsanft rückwärts.
"Sie ist tot, verstehst du? Sie und Samuel, sie sind beide tot! Sie kommen nicht mehr zurück! Tot, einfach tot!", schluchze ich haltlos und taumle wieder nach vorne, weiche seiner Hand aus und hebe den Blick um dem seinen zu begegnen.
"Sei still!"
"Es ist deine Schuld, verstehst du? Du bist weggegangen, als wir dich brauchten und jetzt ist sie tot..."
Dieses Mal erwischt mich seine Hand und ein brennender Schmerz schiesst meine Wange empor, brennt wie Feuer, Feuer das mich verzehrt. Meinen Kiefer, meinen Schädel, das Gehirn, die Brust, alles. Ein erschrockener Kinderschrei durchbricht das Meer aus Punkten in meiner Sicht.
"Hör auf Frank, lass ihn in Ruhe! Lass los!"
"Da war überall Blut, überall! Du bist schuld, Pa..."
Wieder trifft mich die Hand, auf die Lippen, bevor ich es aussprechen kann, dieses Mal kann ich mich nicht halten und stolpere rückwärts. Mein Fuss gleitet an der glatten Stufe aus, ein panisches Zittern fährt durch mich hindurch, als ich rückwärts taumle, dann explodiert Schmerz in meiner Schulter, so stark, dass er mir den Atem verschlägt. Zitternd bleibe ich liegen, spüre den nasskalten Boden, kämpfe gegen die schwarzen Flecken, die mein Gesichtsfeld ausfüllen, drücke den Arm an mich, will ihn abreissen vor Schmerz. Es soll aufhören, es soll einfach aufhören, -alles nur nicht dieser Schmerz.
Aber ich komme auf die Knie, rutsche über den groben Stein, spüre die Tränen, die das Blut in meinem Gesicht wegspülen. Jetzt weint das Kind. Zwei Stimmen dringen empört an mich heran.
Und Papa ist immer noch da. Seine braunen Augen bohren sich in die meinen.
"Da!" Ich strecke den Arm aus, meine blutigen Hände, Mamas Blut, Mama mit den grünen Augen. "Das ist ihr Blut. Sie war tot, als ich gekommen bin und ich...ich hab's versucht...und da war immer mehr Blut. Aus ihrem Mund und dem Bauch...und...und ihre Rippen...".
Mein Schluchzen verklingt in einem Wimmern.
"Leah, ruf die Polizei! Die müssen diesen Verrückten mitnehmen!"
"Frank, er braucht einen Krankenwagen!"
"Leah! Nimm die Kinder rein, los!"
"Nein, wir müssen ihm helfen!"
"Verschwinde, na los!"
Die Faust kommt abermals auf mich zu, doch diesmal bin ich schneller, taumle schmerzerfüllt zurück, die Stufen hinab, stolpere. Zurück in die Dunkelheit in die ich gehöre.
Hallo,
Ich habe gerade Chemie SF und habe beschlossen, dass mich Cetanzahlen und 2-Brom-2-chlor-1,1,1-trifluorethan nicht über alle Massen interessiert...deshalb gibt's jetzt dieses Kapitel...
Ausserdem habe ich sowieso gleich Pause ;)
Was macht ihr heute so? Auch Schule?
Liebe Grüsse,
Hilda
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Schattenfall
Teen FictionDrogen in der Keksdose, blaue Flecken von Mamas Liebhaber, blutige Zähne und schlechte Noten in der Schule. Andreas hält nicht viel von seinem Leben. Aber sterben scheint schwieriger zu sein, als gedacht. Besonders als Nick zum ersten Mal sein trist...