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Ich band meine Haare weit oben zu einem Pferdeschwanz zusammen und verliess die Umkleiden. Nachdem ich die letzten zwei Wochen meine sportlichen Aktivitäten extrem vernachlässigt hatte, war ich froh, dass endlich das Leichtathletik Training begann. Ich hatte mein Versprechen, das ich Liz vor vierzehn Tagen gegeben hatte, nicht vergessen und machte mich auf den Weg zum Sportplatz. In den letzten zwei Wochen hatte ich mich an mein neues Leben gewöhnt. Und tatsächlich mochte ich mein neues Leben. Ich hatte unendlich viel Spass mit Eleanor, und auch mit den Jungs war es immer lustig. Wir sechs waren zu einem Grüppchen zusammengewachsen und hingen fast die ganze Zeit zusammen in der Schule rum. Sie waren mir echt ans Herz gewachsen. Naja, alle ausser Josh. Es verging kein Tag, an dem er mich nicht ärgerte. Er provozierte mich bei jeder Möglichkeit. Grundlos. Gut, könnte auch sein, weil ich nicht besonders  nett zu ihm war. Aber man musste sich ja nicht mit jedem super verstehen. Trotz den ewigen Streitereien mit ihm, verderbte das meine gute Laune nicht. Ich war immer noch so energiegeladen wie am Anfang. Leider aber war ich mit meiner Mission, das Geheimnis herauszufinden, nicht viel weiter gekommen. Mir waren weiterhin winzige Sachen aufgefallen, aber nichts besonders Aussergewöhnliches war passiert. Sie hatten gesagt gehabt, dass es gefährlich werden könnte. Da ich aber weit und breit keine Gefahr sah, beschäftigte es mich auch nicht mehr so sehr. Solange nichts spezielles passierte, hatte ich auch überhaupt keinen Anhaltspunkt, was es sein könnte. Wie gesagt, mochte ich mein Leben gerade wirklich und vielleicht würde ich diese entspannte Atmosphäre zerstören, wenn ich weiter in Dingen rumschnüffelte, die mich nicht wirklich was angingen.

Als ich Kenzo und ein paar andere Leute am Rand der Rundbahn stehen sah, beschleunigte ich meine Schritte, bis ich auf sie zu joggte. Liz winkte mir lächelnd zu, als sie mich bemerkt hatte und die anderen drehten sich zu mir um.

„Hi Amber!", begrüsste mich Liz freundlich, als ich bei ihnen angekommen war. „Hey zusammen", erwiderte ich gut gelaunt. Ein Paar murmelten auch ein ‚hi', andere nickten nur. Mein Blick fiel auf Kenzo und ich lächelte ihn an, was er mir gleich tat. Sieben Leute und ich standen in der prallen Sonne und würden gleich Sport machen.

„Okay Leute, Amber ist nun ebenfalls Teil unseres Teams. Natürlich erst, nachdem sie uns gezeigt hat, was sie drauf hat, aber ihr wisst...", liess sie ihren Satz ausklingen und musste ihn nicht beenden, da jeder über die nicht so gute Lage des Teams Bescheid wusste.

„Amber, was ist deine Spezialität?", wandte sie sich nun an mich.

„400 Meter", antwortete ich ihr wahrheitsgetreu.

„Okay, dann lass mal sehen", meinte sie darauf und ich begann mich aufzuwärmen. Nach fünf Minuten stand ich vor der Startlinie. Die anderen standen am Rand neben der Bahn und Liz hielt eine Trillerpfeife in der rechten Hand. Kenzo war bereit die Zeit zu stoppen und lächelte mir aufmunternd zu. Als der schrille Ton der Pfeife ertönte, rannte ich los.

Und ich war noch nie zuvor in meinem Leben so schnell gerannt.

Ich hatte Rückenwind, der mich nur noch mehr antrieb. Diese Energie, die ich schon in mir spürte, seit wir angekommen waren, kam irgendwie aus mir heraus. Ich hatte das Gefühl, ich flog und spürte kaum noch den Boden unter meinen Füssen. Als ich an Liz und den anderen vorbeirannte, liess ich mich langsamer werden und joggte ruhig aus.

Ich nahm aus dem Augenwinkel wahr, wie Kenzo auf mich zu rannte. Wieso wartete er nicht einfach kurz, bis ich noch eine Runde ausgelaufen war? Also blieb ich stehen und wartete auf ihn. Als er vor mir stand, erkannte ich, dass er sichtlich aufgebracht wirkte.

„Amber, wieso tust du das?!", fragte er mich und ich bemerkte, dass er sich anstrengte nicht laut zu werden. Nur leider hatte ich wirklich keine Ahnung, von was er sprach.

„Was meinst du?", antwortete ich ihm und schaute ihn verwirrt an.

„Wieso brauchst du deine Kräfte vor ihnen?" Das verwirrte ich nur noch mehr. Was für Kräfte?

„Von was zum Teufel redest du?", hakte ich weiter nach.

„Verdammt! Sag nicht, dass du es noch nicht weisst", meinte er und jetzt wirkte er nicht mehr aufgebracht, sondern verzweifelt.

„Wo hast du vorhin gewohnt?"

„New York, weisst du doch."

„Du bist adoptiert, richtig?"

„Von wo weisst du das?" Ich hatte es nur Eleanor erzählt gehabt.

„Scheisse", fluchte er nun mehr zu sich selbst und fuhr sich entmutigt über seine kurzen Haare. Irgendetwas ging hier extrem merkwürdig ab.

Meine Augen wurden gross. Es musste etwas mit ihrem Geheimnis zu tun haben.

„Kannst du mir jetzt bitte erklären, was hier los ist?", fragte ich ihn ahnungslos, wollte aber nicht verraten, dass ich sie mal belauscht hatte.

„Das kann ich nicht allein tun. Warte morgen nach der letzten Stunde auf uns. Josh, Ace, Silas und mich. Okay? Und mach bis dahin bitte kein Sport mehr."

„Sag mir zuerst, warum? So schlimm kann es ja nicht sein", forderte ich ihn auf.

„Du kannst es noch nicht verstehen, vertrau mir einfach", flehte er mich fast schon an. Ich hob meine Augenbrauen. Er sah ein, dass er mir irgendetwas sagen musste, denn er setzte zu einer Antwort an.

„Du warst schnell. Zu schnell. Unnatürlich schnell." Er schaute mich mit einem durchdringenden Blick an. Wollte er mir wirklich weiss machen, dass ich gerade etwas Übernatürliches getan hatte? Ich glaubte wirklich nicht an solches Zeug, aber sein beunruhigter, panischer Blick liess mich zweifeln. Es musste ja irgendeinen Grund haben, weshalb er mir das sagte. Aber das wäre eine heftige Sache. Etwas Sinnvolles geheim zu halten. Trotzdem konnte ich ihm nicht glauben.

„Okay, ich vertraue dir. Aber nur wenn ich morgen Antworten auf alle Fragen kriege", sagte ich beruhigend zu ihm. Er seufzte erleichtert auf, blickte über seine Schulter und schaute zu Liz und den anderen. Liz winkte uns zu und wollte uns so wahrscheinlich mitteilen, dass wir zu ihr kommen sollten.

„Das wirst du. Versprochen. Sag Liz, dass du nach Hause musst. Weil dir schlecht ist, oder du noch etwas erledigen musst. Einfach irgendetwas. Und mach wirklich keinen Sport mehr bis morgen. Bitte. Du bist sowieso im Team." Ich schaute ihn immer noch zweifelnd an. Immer mehr Fragen flogen in meinen Kopf. Wieso verlangte er so etwas von mir? Ich war doch nur gerannt. Ich hatte nichts anderes gemacht. Ja klar, es hatte sich irgendwie anders angefühlt. Irgendwie besser. Nachdem wir schweigend den Hartplatz in der Mitte überquert hatten, hielt ich meine Hand an meine Stirn und tat so, als wäre mir gerade irgendetwas Wichtiges eingefallen wäre.

„Ich möchte gar nicht wissen, worüber ihr geredet habt", sagte Liz und sah uns merkwürdig an, „aber du bist eindeutig dabei."

„Super! Mir ist aber leider gerade noch eingefallen, dass ich gehen sollte. Ich weiss nicht, warum, aber meine Mom hat gesagt, ich sollte sofort nach der Schule nach Hause kommen. Also bis Donnerstag", plapperte ich schnell und warf Kenzo einen letzten fragenden Blick zu, bevor ich mich umdrehte und davon lief.

Ich war in den Umkleiden, als mir plötzlich schwindlig wurde. Ich setzte mich auf eine Bank und stütze meinen Kopf in meine Hände. Der stechende Schmerz wurde immer stärker und es fühlte sich an, als würde mein Gehirn gleich explodieren. Ich stöhnte schmerzerfüllt auf. Es ging eine gefühlte Ewigkeit, bis das Dröhnen in meinem Kopf abschwächte. Als das Stechen endlich verschwunden war, fühlte ich mich total ausgelaugt. Ich wurde müde und hätte sofort einschlafen können. Ich trank aus dem Wasserhahn, stütze mich auf dem Waschbecken ab und schaute in den Spiegel darüber. Einige lose Strähnen aus meinem Pferdeschwanz hingen mir in die Stirn. Ich sah völlig fertig aus. Seit wann erschöpfte mich ein Lauf so sehr? Vorhin hatte ich noch das Gefühl gehabt, ich könnte noch einen ganzen Marathon laufen. Und jetzt?

Merkwürdig. Sehr merkwürdig.

Und dann noch Kenzos seltsames Verhalten. Ich zog mich um, während ich versuchte, nicht zu fest über diese komischen Ereignisse nachzudenken und wollte nur noch nach Hause. Ich verliess die Mädchen Umkleiden und ging zu meinem Drahtesel, der wieder am gleichen Baum wie gestern angemacht war und trampelte los. Ich hoffte, dass Radfahren für Kenzo nicht als Sport galt. Denn gehen würde ich garantiert nicht. Das würde mir viel zu lange dauern. Mein Ziel war nur noch mein Bett. Ich brauchte mein letztes Fünkchen Konzentration, um nicht einen Unfall zu bauen. 

Die Tochter des TodesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt